Riesen am Schalenabschluss?

Unerwartet große Ladungsradien für Calcium-Atomkerne entdeckt

09.02.2016 von

Das Bild zeigt die Isotopenreihe der untersuchten Calciumisotope. Die „doppelt magischen“ Isotope mit den Massenzahlen 40 (Ca-40) und 48 (Ca-48) besitzen gleich große Kernladungsradien. Die erstmalige Messung des Isotops Ca-52 ergab hingegen einen ungewöhnlich großen Ladungsradius. Bild: COLLAPS Collaboration / Ronald Fernando Garcia Ruiz
Das Bild zeigt die Isotopenreihe der untersuchten Calciumisotope. Die „doppelt magischen“ Isotope mit den Massenzahlen 40 (Ca-40) und 48 (Ca-48) besitzen gleich große Kernladungsradien. Die erstmalige Messung des Isotops Ca-52 ergab hingegen einen ungewöhnlich großen Ladungsradius. Bild: COLLAPS Collaboration / Ronald Fernando Garcia Ruiz

Die Isotope des Elementes Calcium sind immer noch für eine Überraschung gut: Nachdem erst vor kurzem die Isotope mit den Massenzahlen 52 (Ca-52) und 54 (Ca-54) als weitere „magische“ und damit relativ stabile Kerne in der Isotopenreihe etabliert wurden, passen die Ergebnisse jüngster laserspektroskopischer Untersuchungen an Ca-52 nicht recht in dieses Bild. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kernphysik in Heidelberg und der Technischen Universität Darmstadt haben gemeinsam mit weiteren Gruppen an ISOLDE/CERN die Ladungsradien der Isotope Ca-49 bis Ca-52 gemessen und dabei ein unerwartet rasches und ungebremstes Wachstum entlang dieser Isotopenkette festgestellt. Wie die Forscher in der jüngsten Ausgabe des Fachjournals Nature Physics berichten, kann keine der bestehenden Kernstrukturtheorien das Ausmaß dieses Anschwellens erklären.

Vor mehr als 50 Jahren wurde das Schalenmodell der Atomkerne von Maria Göppert-Meyer und Hans Jensen entwickelt und war seitdem ausgesprochen erfolgreich. Ähnlich wie die Edelgase, die eine abgeschlossene gefüllte Elektronenschale besitzen und deshalb chemisch inert sind, gibt es auch bei Atomkernen Schalenabschlüsse, die sich durch eine besondere Stabilität ausweisen. Diese Schalenabschlüsse treten bei den sogenannten „magischen“ Zahlen für die Anzahl der Protonen und Neutronen im Kern auf. Aus der Untersuchung stabiler Kerne ergaben sich diese zu 2, 8, 20, 28, 50, 82 und 126. Wenn sowohl die Protonenzahl als auch die Neutronenzahl magisch sind, spricht man von doppelt magischen Kernen.

Die Calciumisotope sind insoweit einmalig, als sich darunter zwei stabile doppelt magische Kerne befinden – das häufigste Isotop Ca-40 und das viel seltenere Isotop Ca-48. Jüngere Resultate von unterschiedlichen kernphysikalischen Experimenten, unter anderem Massenmessungen, an den kurzlebigen Isotopen bis Ca-54 legten den Schluss nahe, dass bei Calcium auch die Neutronenzahlen 32 und 34 magisch sein könnten. Dies steht im Einklang mit theoretischen Rechnungen, die die zugehörigen Bindungs- und Anregungsenergien mit guter Genauigkeit vorhersagen beziehungsweise reproduzieren konnten.

Calcium wäre damit das erste Element, bei dem man vier doppelt magische Kerne kennen würde. Ein weiteres Indiz für einen Schalenabschluss könnten die Kernladungsradien der Isotope liefern, welche die Größe der Ladungsverteilung, die von den positiv geladenen Protonen herrührt, widerspiegeln. Diese Größe kann mittels Laserspektroskopie bestimmt werden, denn die Elektronen der Hülle besitzen eine sehr kleine aber endliche Wahrscheinlichkeit, sich im Atomkern zu tummeln. Während dieser Zeit „ertasten“ sie die Protonenverteilung. Ihre Bindungsenergie verändert sich geringfügig, wenn sich die Ladungsverteilung aufgrund der sich ändernden Zahl von Neutronen vergrößert oder verkleinert. Da die Effekte winzig sind, muss eine sehr genaue Methode verwendet werden, die in der Lage ist diese Variationen zu messen.

Präzise Messungen mit Laserspektroskopie

Die kollineare Laserspektroskopie bietet diese Genauigkeit und wurde bereits früher für die Spektroskopie der leichteren Calciumisotope eingesetzt. Bei dieser Technik wird der Ionenstrahl des zu untersuchenden Isotops mit einem Laserstrahl überlagert. Wenn die Wellenlänge und damit die Farbe des Lasers nicht exakt an die Bindungsenergien der Elektronen im entsprechenden Isotop angepasst ist, kann das Laserlicht nicht mit den Ionen in Wechselwirkung treten und die Detektoren, die von der Seite auf den Ionenstrahl gerichtet sind, liefern keine Signale. Der zu messende Effekt der Ladungsverteilung bewirkt für das Isotop Ca-52 gegenüber dem stabilen Isotop Ca-40 eine Änderung von etwa 2 107 in der Wellenlänge. Dies entspricht einer Variation des Abstandes Erde–Mond um etwa 70 Meter. Besitzt das Laserlicht hingegen die richtige Wellenlänge, so absorbieren die Ionen das Licht. Die dabei aufgenommene Energie müssen sie innerhalb einiger Nanosekunden – eine Nanosekunde ist eine milliardstel Sekunde – wieder loswerden. Dies tun sie, indem sie wiederum Licht aussenden. Dieses geschieht nun aber auch in Richtung der Detektoren, und diese registrieren ein Signal.

An der Isotopenfabrik ISOLDE am CERN können die schwereren radioaktiven Calciumisotope erzeugt, gesammelt und als kurzes Ionenpaket zu verschiedenen Experimenten, unter ihnen auch das COLLAPS-Experiment zur kollinearen Laserspektroskopie, geleitet werden. Obwohl die Pakete von Ca-52 nur einige wenige Ionen beinhalten und diese wiederum die Detektoren innerhalb weniger Mikrosekunden passieren, erzeugen sie ein ausreichendes Signal, um im Experiment beobachtet zu werden und die Ladungsradien präzise zu bestimmen. Die COLLAPS-Messungen erreichten eine Genauigkeit, die im obigen Beispiel einer Bestimmung der Variation des Abstandes Erde–Mond um zwei Meter entspricht.

Dabei ergab sich ein starkes Anwachsen der Ladungsradien bei den Isotopen jenseits von Ca-48. Dass der Ladungsradius von Ca-48 zu Ca-50 stark ansteigt, war bereits in früheren Messungen in den neunziger Jahren festgestellt worden. Jetzt stellte sich aber heraus, dass sich dieser rasche Anstieg praktisch ungebremst bis zu Ca-52 hin fortsetzt und selbst bei diesem als magisch angesehenem Isotop – entgegen den Erwartungen der stärkeren Bindung – der Ladungsradius weiterhin zunimmt. Den experimentellen Messungen werden bestehende und neue, modernste Vielteilchenrechnungen gegenübergestellt. Es zeigt sich, dass keine der Theorien die große Zunahme erklären kann und deutet darauf hin, dass eine Anpassung der Kernkräfte notwendig ist, um den unerwartet großen Ladungsradius von Ca-52 zu beschreiben. Die Calciumisotope bleiben damit in der Kernphysik ein äußerst spannendes Forschungsfeld.

Die in Nature Physics erschienenen Ergebnisse basieren auf einer Zusammenarbeit der COLLAPS Kollaboration an ISOLDE/CERN, bestehend unter anderem aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vom Max-Planck-Institut für Kernphysik, Heidelberg, des Instituts für Kernphysik an Technischen Universität Darmstadt und in den USA.