Annegret Soltau VATERSUCHE

17. Januar bis 7. Juni 2026

Annegret Soltau gehört zu den bedeutendsten feministischen Künstlerinnen der Gegenwart. Sie beschäftigt sich seit den 1970er­Jahren mit Fragen der persönlichen und sozialen Identität und reflektiert dabei ihre Position als Frau im Konstrukt ihrer eigenen Familie. Vom 18. Januar bis 7. Juni 2026 zeigt das Kunstforum der TU Darmstadt die Ausstellung Annegret Soltau VATERSUCHE.

Wie eine scheinbar endlos ausgezogene Schublade eines Aktenschanks erstrecken sich die 69 Blätter der Arbeit „Vatersuche“ in den Raum. Die Serie resümiert die Geschichte von Annegret Soltaus Suche nach ihrem Vater, den sie nie kennengelernt hat. Obwohl in der Familie nie darüber gesprochen wurde, beschäftigt sie die Frage nach der Identität ihres Vaters seit jeher. Schon früh beginnt sie deshalb, Informationen über ihn zu sammeln. Von ihrer Mutter erfährt sie lediglich einen Namen und erhielt ein einziges Foto, das ihn zeigt. 1988 wendet sich Soltau erstmals an eine offizielle Suchstelle. Seither unternimmt sie immer wieder unterschiedlichste Versuche, mehr über ihren Vater zu erfahren. Angesichts der unzähligen ernüchternden Antwortschreiben entscheidet sie sich 2003, das gesammelte Material zu einer künstlerischen Arbeit zu transformieren, die bis heute fortgeführt wird. Hierfür verwendet Soltau verschiedene Selbstporträts, aus denen sie ihre Gesichtspartie herausreißt und die gesammelten Dokumente mit Nadel und Faden an die herausgetrennte Stelle näht.

Anders als bei vielen Künstlerinnen ihrer Generation, für die der eigene Vater die Verkörperung eines gewalttätigen Patriarchats war, blieb die Vaterfigur für Annegret Soltau immer eine Projektion, deren Abwesenheit sie als großen Mangel empfand.

Gegenüberstellend präsentiert die Ausstellung die Serie „Tagesdiagramme” – 58 Einzelblätter, die die Künstlerin 1977 über einen Zeitraum von zwölf Monaten wie ein visuelles Tagebuch mit Filzstiften, Aquarelltechnik und einer Schreibmaschine auf einfachen DIN-A4-Bögen geführt hat. Gerade weil die Tagesdiagramme keinerlei direkte Körperlichkeit zeigen, handelt es sich um eine der intimsten Arbeiten der Künstlerin. Im Gegensatz zu den Werken, die Soltau für die Öffentlichkeit bestimmt hat, erlauben sie einen Blick hinter die Fassade des komplexen Systems Annegret Soltau.

Die Künstlerin skizziert darin ihre eigenen Gefühlslagen und Zustände, aber auch die Beziehungen zu anderen Personen, sehr offen. Dabei versucht sie, den Zusammenhängen und Kausalitäten auf den Grund zu gehen und ihre widersprüchlichen Gefühle einzuordnen. Dafür spaltet die Künstlerin die Worte oft in ihre Einzelteile auf, zum Beispiel das Wort „Auseinandersetzung”.

Mit den Tagesdiagrammen unternimmt Soltau den Versuch einer täglichen phänomenologischen Selbstanalyse. Ausgehend von sich selbst und der eigenen Wahrnehmung nähert sie sich der Erkenntnis im Sinne der Phänomenologie von Merleau-Ponty. Die leibliche Dimension, die sich aus der Ablehnung der Vorstellung von der Trennung von Körper und Geist herleitet, erzielt Soltau in ihren Tagesdiagrammen durch das Zusammenspiel von grauer Schreibmaschinenschrift und farbigen Partien. Der konkreten Bildlichkeit der Schreibmaschinenschrift, setzt Soltau eine farbbetonte, oft abstrakte Bildebene gegenüber. Die kleinen Zeichnungen, farbigen Linien und aquarellierten Oberflächen kontrastieren mit den getippten Worten und erfassen den Menschen in seiner ganzen leiblich-sinnlichen Dimension.

Die Tagesdiagramme entstanden zeitgleich mit dem Werkkomplex „Schwanger“ und thematisieren erst den empfundenen Kinderwunsch und begleiten später die Schwangerschaft. Annegret Soltau gehört zu den ersten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, die ihre Schwangerschaft zentral in ihrem Werk thematisieren – auch mit der politischen Absicht, zu beweisen, dass eine Frau gleichermaßen Künstlerin und Mutter sein kann. Heute wird sie für ihre Arbeit als Pionierin der feministischen Avantgarde gefeiert.

Beide Serien laden dazu ein, von den Besucher*innen Blatt für Blatt erschlossen zu werden – wie ein in den Raum ragendes Künstlerbuch.

»Als Ausgangsmaterial für meine künstlerische Arbeit verwende ich die Dokumente meiner jahrelangen, erfolglosen Suche nach meinem verschollenen Vater. Die Arbeit besteht bisher aus 69 Selbstportraits. In mein Gesicht habe ich die Original-Briefe der Behörden z.B. Rotes Kreuz, Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. oder Deutsche Dienststelle für Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen Deutschen Wehrmacht eingenäht. Somit wird meinen Selbstportraits die ungelöste Schicksalsgeschichte infolge des Zweiten Weltkrieges förmlich ins Gesicht geschrieben, aber diese förmlichen Antwortschreiben bleiben wie eine leere Stelle in meinem Gesicht, wie ein weißer Fleck.«

Annegret Soltau

Kurz nach dem 2. Weltkrieg wurde Annegret Soltau am 16. Januar 1946 in Lüneburg als uneheliches Kind geboren. Ihre Mutter beschrieb die Umstände der Geburt als schwierig, obwohl die Entbindung in einer Klinik stattfand. Ihrem Kind konnte sie nicht die nötige Aufmerksamkeit entgegenbringen. Sie wuchs vorwiegend bei ihrer Großmutter in der Elbmarsch bei Hamburg auf. Während in ihrer Jugend das Verhältnis zur Mutter problematisch blieb, wurde über ihren leiblichen Vater nicht gesprochen. Schon sehr lange beschäftigt sich die seit 1973 in Darmstadt lebende Künstlerin mit der Suche nach ihrem Vater und der Geschichte ihrer Eltern. 1988 schrieb sie das erste Mal den DRK­Suchdienst an. Es folgten weitere Suchanfragen bei den unterschiedlichsten Behörden. 2003 entschied die Künstlerin, das gesammelte Material künstlerisch zu verarbeiten.

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