(Gem)einsam Entwerfen

Ein Erfahrungsbericht aus der Lehre

07.07.2020

Die Umstellung auf das digitale Semester mag am Fachgebiet Digitales Gestalten vergleichsweise unkompliziert verlaufen sein, finden hier doch viele Lerneinheiten schon lange computerbasiert statt. Dennoch gab es viel zu lernen über Cloud-basierte Anwendungen und die Grenzen digitaler Abbildbarkeit. Professor Oliver Tessmann gibt Einblicke in das digitale Semester am Fachbereich Architektur.

Digitales Gestalten am Fachbereich Architektur

Als Fachgebiet für Digitales Gestalten möchten wir Architektur mit Hilfe des computerbasierten Entwerfens und der digitalen Fabrikation vielfältig, anpassungsfähig und nachhaltig gestalten. Dabei ist der Computer mehr als ein besserer Zeichenstift. Wir können Lastabtrag, Materialeigenschaften, Lichteinfall aber auch Produktionsprozesse simulieren und diese Themen zu treibenden Kräften beim Entwerfen werden lassen. Die digitalen Werkzeuge sind eine Plattform für interdisziplinäres Arbeiten, die uns hilft, die vielfältigen Anforderungen an ein Gebäude und ihre komplexen Abhängigkeiten in Einklang zu bringen. Dabei entstehen Formen, Räume und Konstruktionen, die man mit dem Bleistift nicht zeichnen kann. Roboter und 3D-Drucker helfen uns, diese Entwürfe zu materialisieren.

Im aktuellen digitalen Sommersemester konnten wir das computerbasierte Entwerfen wie gewohnt stattfinden lassen. Das Erlernen der digitalen Werkzeuge und Methoden findet schon seit Jahren auf Moodle und über Erklärvideos statt, weil dies den Studierenden erlaubt in ihrer Geschwindigkeit zu lernen, zu experimentieren und zu entwerfen. In Moodle-Foren tauschen sich die Entwurfsteilnehmerinnen und -teilnehmer aus, formulieren Fragen und helfen sich gegenseitig. Dieser Austausch festigt das neu erlangte Wissen und ist produktiver als Frontalunterricht. In diesem Semester experimentieren wir darüber hinaus mit Cloud-basierten Anwendungen, die es den Studierenden ermöglichen, gemeinschaftlich mit mehreren Personen in Echtzeit an einem digitalen 3D-Modell zu arbeiten. Anders als in Videokonferenzen können dabei alle Beteiligten aktiv in das Geschehen eingreifen und ihre Ideen in Modelle umsetzen.

Virtual Reality und wandelbare Räume

Die digitale Fabrikation, als zweiter integraler Bestandteil unserer Lehre und Forschung, verlangt die Nutzung unserer Labore und Werkstätten und musste in diesem Semester entfallen. Damit fehlt ein wichtiger Baustein, um das digital Entworfene physisch zu verifizieren und zu evaluieren. Wir nutzen stattdessen eine Software, die eigentlich für die Entwicklung von Computerspielen und interaktiven Virtual-Reality/Augmented-Reality-Umgebungen genutzt wird. Hier können wir nicht nur einen dreidimensionalen Raum darstellen, sondern auch physisches Verhalten, Kinetik, Animation und Interaktion erleben. Statt durch ein physisches Modell werden am Ende des Kurses die Entwürfe in Virtual Reality erlebbar.

Wir treffen uns zu Präsentationen per Videokonferenz und die Studierenden stellen fest, dass sie diesmal auch in der ersten Reihe sitzen. Im Seminarraum war das bisher den Mitgliedern der Jury vorbehalten. Diesen positiven Effekt der digitalen Lehre möchten wir gerne in die Präsenzlehre mitnehmen. Ein weiterer positiver Aspekt der Projektpräsentationen über Videokonferenz war die Möglichkeit, internationale Gastkritiker schnell und unkompliziert einzuladen. So konnten wir gemeinsam mit Jonas Runberger von der KTH Stockholm, Shayani Fernando von der Universität Sydney und dem Argentinier Luis Etchgorry die Entwürfe der Studierenden diskutieren.

Floating Amusement – digital entstanden im Fachgebiet Digitales Gestalten
Floating Amusement – digital entstanden im Fachgebiet Digitales Gestalten

Was wir vermissen, sind die Momente der Spontaneität und kreativen Zufälle, die im Dialog entstehen, beim gemeinsamen Skizzieren oder durch Modelle und Zeichnungen. Manche vermeintlich unproduktive Idee schafft es niemals in die perfektionistische Online-Präsentation, provoziert aber beim gemeinsamen Gespräch am Arbeitsplatz vollkommen neue Entwicklungsmöglichkeiten. Diese Prozesse sind nur sehr bedingt digital abbildbar.

Die ursprünglich geplante Herstellung rotationsgeformter Betonhohlbaukörper entfällt. Stattdessen erforschen die Entwurfsteilnehmerinnen und -teilnehmer wie solche großformatigen und gleichzeitig leichten Bauteile dafür genutzt werden können, Raum und Konstruktion veränderlich und interaktiv zu gestalten. Bauteile verzahnen sich zu trocken gefügten Konstruktionen, können sich wieder lösen und zu neuen Einbaupositionen rollen, drehen und schwenken. Raum wird wandelbar und kann von seinen Nutzerinnen und Nutzern umgestaltet werden. Als Testumgebung für solche neuen Architekturen entwerfen die Teilnehmenden Orte des Spielens, Feierns, Musizierens und gemeinsamen Essens entlang des Mainufers in der Frankfurter Innenstadt. Orte, nach denen wir uns in diesem Semester sehnen, werden zu einer Projektionsfläche experimenteller, utopischer und spielerischer Architektur. Dahinter stehen jedoch ganz konkrete und hochrelevante Fragen zu Nachhaltigkeit durch flexible Nutzungen von Gebäuden, materialsparenden hohlen Bauteilen und reversiblen Bauteilfügungen, die eine Weiterverwendung im Sinne der Kreislaufwirtschaft ermöglichen sollen.

Prof. Dr.-Ing. Oliver Tessmann/mho