TRAUTES HEIM

12. September bis 15. November 2020 (im Außenraum verlängert bis 20. Dezember 2020)

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Trailer der Ausstellungseröffnung von Stefan Daub (Dauer: 01:00)

Das Kunstforum der TU Darmstadt präsentiert im Rahmen der 11. Darmstädter Tage der Fotografie „Skurrile Fluchten. – Humor in der Fotografie“ die erste Outdoor-Fotografie Ausstellung TRAUTES HEIM. An sechs zentralen Orten der Stadt und im Konsum Mathildenhöhe (Pützerstraße 6, 64283 Darmstadt) werden circa 90 fotografische Arbeiten internationaler Künstlerinnen und Künstler präsentiert und erstmals in Deutschland in diesem Umfang der öffentliche Raum für die Kunst nutzbar gemacht.

In TRAUTES HEIM wird das eigene Zuhause zur unkonventionellen Projektionsfläche unterschiedlicher Auseinandersetzungen. Bereits im Spruch „Trautes Heim, Glück allein“, der im Titel der Ausstellung TRAUTES HEIM mitschwingt und gleichzeitig hinterfragt wird, hat in den vergangenen Monaten eine brisantere Nuance erhalten. Die eigenen vier Wände als Refugium oder schützenden Raum zu erleben, war zuletzt eher fraglich. Gleichzeitig wurde bei vielen Menschen – und auch vielen Künstlerinnen und Künstlern – das Zuhause zum Ort der Auseinandersetzung mit sich selbst, den eigenen Beziehungen, der eigenen Herkunft. Zum Ort des Nachdenkens über gesellschaftliche Verhältnisse oder Visionen – oder über existentielle Fragen. Das traute Zuhause dient als Refugium und Schutzraum, in dem sich – von der Fantasie beflügelt – skurrile Fluchtmöglichkeiten ergeben.

»Der Humor ist nicht resigniert, er ist trotzig, er bedeutet nicht nur den Triumph des Ichs, sondern auch den des Lustprinzips, das sich hier gegen die Ungunst der realen Verhältnisse zu behaupten vermag.«

Sigmund Freud

Genau dies geschieht in TRAUTES HEIM. In der Ausstellung wird das Zuhause zum Experimentierfeld und zum Ausgangspunkt künstlerischer Inszenierungen. Flüchten lässt sich in erster Linie in zwei Richtungen: Hinaus in die Welt oder nach Innen zu sich selbst. Die zehn in der Ausstellung vertretenen internationalen Künstlerinnen und Künstler zeigen, welche Dynamiken die Flucht nach Innen, in einen geschützten Raum entwickeln kann. Neue Perspektiven entstehen dank der Kamera. Spielerisch und humorvoll werden veränderte Realitäten geschaffen und Vorhandenes in Frage gestellt. Von der Fantasie beflügelt ergeben sich skurrile Fluchtmöglichkeiten.

Die von Julia Reichelt (Leiterin des Kunstforums der TU Darmstadt) kuratierte Ausstellung vereint internationale Stars der Fotokunstszene wie Erwin Wurm, Ren Hang und die Pioniere der inszenierten Fotografie Anna und Bernhard Blume. Sie zeigt erstmals in Deutschland die fotografischen Arbeiten von AdeY, Pixy Liao und Alexey Shlyk und in diesem Umfang die finnische Künstlerin Iiu Susiraja.

Mit dabei: AdeY, Katrin Binner, Anna & Bernhard Blume, Ren Hang, Andy Kassier, Pixy Liao, Alexey Shlyk, Iiu Susiraja, Erwin Wurm

Stimmen

Besuch: Konsum Mathildenhöhe

Öffnungszeiten
Festivalwoche
Anfahrt
Eintritt frei
AdeY, »Portrait« (2016)
AdeY, »Portrait« (2016)

In seinen Fotografien arrangiert der ehemalige Tänzer und Choreograph AdeY seine Modelle skulptural: Oft nur mit Turnschuhen bekleidet gruppieren sie sich zu geometrischen Gruppen, eng aneinander gelehnt oder übereinan- der gestapelt. Das zivilisatorische Gerüst unseres Alltags wird als solches sichtbar und humorvoll hinterfragt. Der schwedisch-britische Künstler kombiniert seine Protagonisten in der schnörkellosen Umgebung einer Waschküche (Laundry Time, 2015) oder legt sie in ein leeres Regal (Modern Living, 2017).

Er platziert sie in gestapelten Kisten, wie in Product Placement France (2018). Eine Anspielung an eine der bekanntesten Fotoserien von Will McBride, die „Kistengeschichten“. Die sechzehn Dar- steller des damaligen Münchner Hair Musicals bildete McBride für sein Magazin Twen nackt ab und inszenierte sie in elf Kisten – als Protest gegen den Vietnamkrieg und als Plädoyer für ein freies Leben, in der jeder sich anders in seiner Nacktheit zeigen darf, nachdenklich, verschämt, unbekümmert.

Der inzwischen ebenfalls zur Fotoikone gewordene Rückenakt der Mitglieder der Kommune 1 von Thomas Hesterberg Kommune I (1967) ist ein weiteres Motiv, das AdeY in Hangout Part IV (2017) aufgreift. Auch dies ist eines der mar- kantesten Bilddokumente der 68er-Bewegung in Deutschland, zugleich Symbolbild für die sexuelle Revolution. Die Sehnsucht nach der damals postulierten freien Gesellschaft findet auch in AdeYs Accumulate (2017) seinen Aus- druck. Drei Frauen klettern nackt auf einem Baum im Hinterhof eines Hauses – ein zeitgenössisches „Kommunenfoto“? Weitere Anspielungen in AdeYs Arbeiten an künstlerische Vorbilder sind ebenfalls aufschlussreich: So erinnert After you (2018) an die Performance Imponderabilia (1977) von Ulay und Marina Abramovic, als die Museumsbesu- cher*innen sich an den beiden unbekleideten Künstlern vorbei den Weg in die Ausstellung bahnen mussten.

Bild: Valérie Bourdel

AdeY

Portraittext

Eine humorvolle Interpretation der darwinschen Evolutionslehre ist Evolution Part II (2018). Der Weg zum „aufrech- ten Gang des Menschen“, wie er von Darwin postuliert wird, konterkariert AdeY durch die komische Aneinander- reihung von gekauerten bis stehenden Menschen, von denen die letzte Person kopfüber und eben nicht aufrecht steht. AdeYs Fotos vermeiden das Individuelle. Er zeigt die Gesichter der Beteiligten nicht und erreicht so eine stärkere Identifikation mit den Betrachtenden. Das Recht auf Unterschiede treibt seine Bilder an. Humorvoll und experimen- tell visualisieren sie die menschliche Verwundbarkeit und Einsamkeit, aber auch die Stärken. In Devotion (2017) ist das „Heim“ bereits zusammengebrochen und zur Ruine verkommen. Am letzten Balken klammern sich zwei Perso- nen aneinander – was bleibt ist die Bindung als letzter Strohhalm inmitten einer zusammengebrochenen Welt.

AdeYs Werke sind politisch motiviert. Sie erkunden, wie die Gesellschaft definiert ist, wer wir sind und wie wir wahr- genommen werden. Der Mensch wird in äußere Strukturen eingepasst – ob es ihm entspricht oder nicht. Die Empfindsamkeit der ungeschützten Haut kontrastiert die Unwirtlichkeit der zivilisatorischen Umgebung. Sei es die Waschküche mit ihren kühlen Kacheln und der Waschmaschine oder die eckigen Fächer des vorgefertigten leeren Regals. Der verletzliche Körper wird darin eingepfercht und das Gefühl des Andersseins verstärkt. Doch zum Glück gibt es ja noch die Anderen, an die man sich kuscheln kann. Ein Plädoyer für Toleranz.

AdeY, »Portrait« (2016)
AdeY, »Portrait« (2016)

Der Blick fällt zunächst auf die Beilagen: pralle Trauben und eine Gurke, dann die gelb leuchtenden Zitronen, das blitzende Goldgeschirr.

Aber die ungute Ahnung, dass Großmutter hier nicht zum Sonntagsbuffet eingeladen hat, macht sich so breit wie das weiße Geistertuch. Man will dieses Etwas ignorieren. Oder zumindest als Decke glattziehen, um wieder Ordnung auf den Tisch zu bringen. Hat man den Geist einmal als nackte Frau enttarnt, eingehüllt in eine dünne Plastikdecke, ist der Blick verdorben.

Bild: Valérie Bourdel

Katrin Binner

Portraittext

Nichts, was hier glänzt, ist gold: Kantinengeschirr und Pappteller, die Fake-Goldtassen, zerbrochen, die Ananas ungenießbar, das Ei: so gut wie erledigt. Alles wird zur Fassade oder Vordergrund, vergänglich und fragil. Katrin Binner spielt in dieser Fotoarbeit die klassischen Genres der Kunstgeschichte gegeneinander aus. Rückenakt schlägt Stillleben.

AdeY, »Portrait« (2016)
AdeY, »Portrait« (2016)

Anna und Bernhard Blume gehören zu den Pionieren der Experimentalfotografie. Weit entfernt von digitaler Bild- bearbeitung und Photoshop bringen sie sich selbst und diverse Alltagsgegenstände in irrwitzige Situationen und Positionen.

In ihren Fotografien gerät die häusliche Welt aus ihren Fugen: Schon in der 1984 entstandenen Serie Im Wahn- zimmer entledigt sich stabiles Mobiliar seiner Schwerkraft, fliegt Bernhard Blume mit einer Vase durch die Luft. In Küchenkoller (1986) sind es Kartoffeln, jongliert mit unsichtbarer Hand, und mitten im Kartoffel-Punkte-Chaos eine mit dem Stuhl stürzende Anna Blume. In den Bildsequenzen der Serie Trautes Heim. Ein psychopathetischer Vorgang (1985/86) werden sowohl die Küche als „Keimzelle der Hausfrau“ als auch das Wohnzimmer zum Tatort spieleri- scher Demontage der kleinbürgerlichen Ordnung.

Bild: Valérie Bourdel

Anna und Bernhard Blume

Portraittext

In diesem »trautem Heim« ist nichts mehr sicher und stabil. Immer passiert etwas, immer gibt es eine Geschichte und eine Übertragung ins Symbolische, ein Spiel mit der Kunstgeschichte und ein Spiel mit dem Leben an sich. Das »traute Heim« wird zum Experimentierfeld für den Umgang mit tradierten Rollen und spielt mit kunsthistorischen Strömungen wie Avantgarde und Konstruktivismus.

»Doch beim Betrachter überwiegt nicht das Gefühl der Bedrohung, sondern die Lust am Befreiungsschlag. Seit über 30 Jahren kämpfen Anna und Bernhard Blume mit ihren Zeichnungen und Fotografien gegen die ›Versteinerung der Körper, der Seele und des Geistes, erzwungen und geworden durch verinnerlichte Umstände‹. Indem sie den vermeintlich vertrauten Dingen aus unserer Umgebung ein Eigenleben geben, zeigen sie die Wirklichkeit als Wahnsystem. Ihre Fotos parodieren unseren Alltag – und wecken damit die Lust am Chaos.« (Martina Müller, WDR über die Ausstellung Anna & Bernhard Blume: Trautes Heim im Museum Ostwall, Dortmund, 2011)

AdeY: „Portrait“ (2016)
AdeY: „Portrait“ (2016)

In seinen Fotografien arrangiert der ehemalige Tänzer und Choreograph AdeY seine Modelle skulptural: Oft nur mit Turnschuhen bekleidet gruppieren sie sich zu geometrischen Gruppen, eng aneinander gelehnt oder übereinan- der gestapelt. Das zivilisatorische Gerüst unseres Alltags wird als solches sichtbar und humorvoll hinterfragt. Der schwedisch-britische Künstler kombiniert seine Protagonisten in der schnörkellosen Umgebung einer Waschküche (Laundry Time, 2015) oder legt sie in ein leeres Regal (Modern Living, 2017).

Er platziert sie in gestapelten Kisten, wie in Product Placement France (2018). Eine Anspielung an eine der bekanntesten Fotoserien von Will McBride, die „Kistengeschichten“. Die sechzehn Dar- steller des damaligen Münchner Hair Musicals bildete McBride für sein Magazin Twen nackt ab und inszenierte sie in elf Kisten – als Protest gegen den Vietnamkrieg und als Plädoyer für ein freies Leben, in der jeder sich anders in seiner Nacktheit zeigen darf, nachdenklich, verschämt, unbekümmert.

Der inzwischen ebenfalls zur Fotoikone gewordene Rückenakt der Mitglieder der Kommune 1 von Thomas Hesterberg Kommune I (1967) ist ein weiteres Motiv, das AdeY in Hangout Part IV (2017) aufgreift. Auch dies ist eines der mar- kantesten Bilddokumente der 68er-Bewegung in Deutschland, zugleich Symbolbild für die sexuelle Revolution. Die Sehnsucht nach der damals postulierten freien Gesellschaft findet auch in AdeYs Accumulate (2017) seinen Aus- druck. Drei Frauen klettern nackt auf einem Baum im Hinterhof eines Hauses – ein zeitgenössisches „Kommunenfoto“? Weitere Anspielungen in AdeYs Arbeiten an künstlerische Vorbilder sind ebenfalls aufschlussreich: So erinnert After you (2018) an die Performance Imponderabilia (1977) von Ulay und Marina Abramovic, als die Museumsbesu- cher*innen sich an den beiden unbekleideten Künstlern vorbei den Weg in die Ausstellung bahnen mussten.

Eine humorvolle Interpretation der darwinschen Evolutionslehre ist Evolution Part II (2018). Der Weg zum „aufrech- ten Gang des Menschen“, wie er von Darwin postuliert wird, konterkariert AdeY durch die komische Aneinander- reihung von gekauerten bis stehenden Menschen, von denen die letzte Person kopfüber und eben nicht aufrecht steht. AdeYs Fotos vermeiden das Individuelle. Er zeigt die Gesichter der Beteiligten nicht und erreicht so eine stärkere Identifikation mit den Betrachtenden. Das Recht auf Unterschiede treibt seine Bilder an. Humorvoll und experimen- tell visualisieren sie die menschliche Verwundbarkeit und Einsamkeit, aber auch die Stärken. In Devotion (2017) ist das „Heim“ bereits zusammengebrochen und zur Ruine verkommen. Am letzten Balken klammern sich zwei Perso- nen aneinander – was bleibt ist die Bindung als letzter Strohhalm inmitten einer zusammengebrochenen Welt.

AdeYs Werke sind politisch motiviert. Sie erkunden, wie die Gesellschaft definiert ist, wer wir sind und wie wir wahr- genommen werden. Der Mensch wird in äußere Strukturen eingepasst – ob es ihm entspricht oder nicht. Die Empfindsamkeit der ungeschützten Haut kontrastiert die Unwirtlichkeit der zivilisatorischen Umgebung. Sei es die Waschküche mit ihren kühlen Kacheln und der Waschmaschine oder die eckigen Fächer des vorgefertigten leeren Regals. Der verletzliche Körper wird darin eingepfercht und das Gefühl des Andersseins verstärkt. Doch zum Glück gibt es ja noch die Anderen, an die man sich kuscheln kann. Ein Plädoyer für Toleranz.

Der Blick fällt zunächst auf die Beilagen: pralle Trauben und eine Gurke, dann die gelb leuchtenden Zitronen, das blitzende Goldgeschirr.

Aber die ungute Ahnung, dass Großmutter hier nicht zum Sonntagsbuffet eingeladen hat, macht sich so breit wie das weiße Geistertuch. Man will dieses Etwas ignorieren. Oder zumindest als Decke glattziehen, um wieder Ordnung auf den Tisch zu bringen. Hat man den Geist einmal als nackte Frau enttarnt, eingehüllt in eine dünne Plastikdecke, ist der Blick verdorben.

Nichts, was hier glänzt, ist gold: Kantinengeschirr und Pappteller, die Fake-Goldtassen, zerbrochen, die Ananas ungenießbar, das Ei: so gut wie erledigt. Alles wird zur Fassade oder Vordergrund, vergänglich und fragil. Katrin Binner spielt in dieser Fotoarbeit die klassischen Genres der Kunstgeschichte gegeneinander aus. Rückenakt schlägt Stillleben.

Anna und Bernhard Blume: „Ein Psychopathetischer Vorgang“ (1985 – 1990)
Anna und Bernhard Blume: „Ein Psychopathetischer Vorgang“ (1985 – 1990)

Anna und Bernhard Blume gehören zu den Pionieren der Experimentalfotografie. Weit entfernt von digitaler Bild- bearbeitung und Photoshop bringen sie sich selbst und diverse Alltagsgegenstände in irrwitzige Situationen und Positionen.

In ihren Fotografien gerät die häusliche Welt aus ihren Fugen: Schon in der 1984 entstandenen Serie Im Wahn- zimmer entledigt sich stabiles Mobiliar seiner Schwerkraft, fliegt Bernhard Blume mit einer Vase durch die Luft. In Küchenkoller (1986) sind es Kartoffeln, jongliert mit unsichtbarer Hand, und mitten im Kartoffel-Punkte-Chaos eine mit dem Stuhl stürzende Anna Blume. In den Bildsequenzen der Serie Trautes Heim. Ein psychopathetischer Vorgang (1985/86) werden sowohl die Küche als „Keimzelle der Hausfrau“ als auch das Wohnzimmer zum Tatort spieleri- scher Demontage der kleinbürgerlichen Ordnung.

In diesem „trautem Heim“ ist nichts mehr sicher und stabil. Immer passiert etwas, immer gibt es eine Geschichte und eine Übertragung ins Symbolische, ein Spiel mit der Kunstgeschichte und ein Spiel mit dem Leben an sich. Das „traute Heim“ wird zum Experimentierfeld für den Umgang mit tradierten Rollen und spielt mit kunsthistorischen Strömungen wie Avantgarde und Konstruktivismus.

„Doch beim Betrachter überwiegt nicht das Gefühl der Bedrohung, sondern die Lust am Befreiungsschlag. Seit über 30 Jahren kämpfen Anna und Bernhard Blume mit ihren Zeichnungen und Fotografien gegen die „Versteinerung der Körper, der Seele und des Geistes, erzwungen und geworden durch verinnerlichte Umstände“. Indem sie den ver- meintlich vertrauten Dingen aus unserer Umgebung ein Eigenleben geben, zeigen sie die Wirklichkeit als Wahnsystem. Ihre Fotos parodieren unseren Alltag – und wecken damit die Lust am Chaos.“ (Martina Müller, WDR über die Aus- stellung Anna & Bernhard Blume: Trautes Heim im Museum Ostwall, Dortmund, 2011)

Ren Hang (*1987 in Chang Chung, †2017 in Peking) gehört zu den profiliertesten zeitgenössischen Fotografen in China. Seine überwiegend im Schutz der eigenen vier Wände entstandenen analogen Fotografien von Freunden, später auch Fans, sind eine Hommage an die Freiheit nackter Körper. „I rarely leave my house unless necessary. I don‘t wander out- side, I only go to my destination.“ erzählt er im 2014 entstandenen Kurzfilm Getting close to Ren Hang über sich.

Ren Hangs Fotografien sind hoch ästethisch und virtuos komponiert – aber nicht beschönigend. Sie sind unterkühlt und brutal direkt – und fühlen sich an wie die Szene im Andalusischen Hund (1929) von Luis Buñuel und Salvador Dalí als mit einem Rasiermesser durchs Auge geschnitten wird. Hangs visuelles Universum speist sich aus dieser ersten großen Glanzzeit der Fotokunst: dem Surrealismus mit seinen kühnen Verbindungen ungleicher Elemente und den skurrilen Requisiten. Aber auch von der Bauhausfotografie und ihrem Umgang mit dem menschlichen Kör- per ist er beeinflusst. Etwa wenn er hintereinander gereihte Körper wirken lässt wie eine Wüstenlandschaft.

Experimentierfreudig und überraschend ist Ren Hangs Umgang mit dem menschlichen Körper. Kompromisslos und dennoch intim. An ihnen erxerziert er wie Nobuyoshi Araki die existentiellen Themen des Menschen: Leben, Liebe, Schmerz und Tod. Es ist der geworfene Mensch, den er darstellt, auch wenn er knallrote Lippen hat oder mit stark farbigen Accessoires wie Blüten oder Tieren geschmückt ist. Denn trotz verspielter, farbenfroher Szenen junger und schöner Körper, die gleichberechtigt wirken, zeigen seine Bilder menschliche Zustände, die von Einsamkeit und Verletzlichkeit geprägt sind.

Daher erinnert Hang auch an die Schwarz-Weiß-Fotografien Francesca Woodmans und deren Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrem Körper. Ihre 1981 kurz vor ihrem Selbstmord mit 22 Jahren publizierten Selbstporträts Some disordered interior schlägt sich nieder in Motiven von Ren Hang. Auch bei ihm treten Attribute wie ein Koffer auf, in dem ein weiblicher Körper verschwindet. Morbide und betörend.

„Sometimes words can‘t leave my mouth But it‘s not because I have nothing to say Sometimes I can‘t go out But it‘s not because there are no more roads to wander Sometimes I just want to lie down quietly for a while.“ (Ren Hang | I don’t feel like talking | 10.01.2013)

Quelle: Elena Rebaudengo, Yogurt Magazine in Kooperation mit Photography of China.

Andy Kassier: „Work Out“ (2018
Andy Kassier: „Work Out“ (2018

Inmitten der aktuellen Debatten um Gender und Diversität erstellt der Konzeptkünstler Andy Kassier eine Typo- logie der Darstellung von Männlichkeit im Internet. Aus dutzenden Selbstdarstellungen in den sozialen Medien kristallisiert er heraus, wie der „normale“ Mann heute mit Vorliebe gesehen werden will. Im Vergleich zu früheren Zeiten hat sich nichts geändert. Es ist immer noch ein patriarchalisches Wertesystem, in dem der Mann durch seine Attribute vor allem eins präsentiert: Macht. Das Credo „Die Welt ist mir untertan“ übernimmt Kassier und treibt sie in einer seiner frühen Fotografien ad absurdum: Sie zeigt den Künstler, lediglich mit einem Pelzmantel bekleidet, hoch auf einem Gipfel sitzend – im Hintergrund der Blick auf die weite Bergwelt. Der Fotograf weiß, wie man Effekte erzielt und sich am besten vermarktet. „Ich habe früh gemerkt, dass sich die Leute im Internet ganz anders darstellen, als sie real sind, und das habe ich dann sofort versucht, komplett auf die Spitze zu treiben.“ (Andy Kassier)

2013 kreiert er sein Alter Ego, das ebenfalls „Andy Kassier“ heißt, aber ein fiktives Luxusleben führt. Denn wo ist Macht heute besser ablesbar als an den Insignien des Erfolgs? Dieser andere Andy Kassier ist ein gut gekleideter, hoch motivierter Geschäftsmann, immer damit beschäftigt, sein bestes Leben zu leben. Die Figur Kassier ist die Personifikation des falschen Versprechens, Geld, Macht und Sorglosigkeit seien für alle erreichbar. success is just a smile away nennt er dies Kunstprojekt, das er ausschließlich digital auf Instagram betreibt. Es ist eine Persiflage auf die erhöhte Selbstdarstellung von Männern im Netz, die er seitdem auf Instagram betreibt und mit immer wie- der neuen Posts bestückt: Sie zeigen ihn auf einem Schimmel perfekte Strände entlang reitend, mit dem Golf- schläger in der Hand, sich auf teuren Yachten sonnend und vor Luxuslimousinen stehend. Ironisch verkörpert er die Narrative von Erfolg und Glück in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft.

Auch auf das eigene Heim wird seines ursprünglichen Sinnes beraubt. Kein Geborgenheit verheißender Rückzugsort mehr, sondern ein minimalistisch reduzierter Raum ohne Seele, zur Fassade reduziert. Blitzblank sauber, wie aus einem Edelmöbelkatalog. Alles hat Kassier im Griff, nichts liegt herum oder lässt auf echtes Leben schließen. Dandy- haft inszeniert er sich im Swimmingpool, um ein Jet-Set-Leben zu fingieren, das es in der Realität nicht gibt.

Nicht nur die Welt, auch der Körper ist ihm untertan, signalisiert der perfekt trainierte und makellos attraktive Künstler in work out. Es ist eine aalglatte Schönheit, die hier zur Schau gestellt wird. Das Bild zeigt die Figur Kassier beim morgendlichen Sport. Ein Arm reicht ihm für die Liegestütze, ihm scheint alles zu gelingen. Die Pose ist perfekt – findet auch Kassier, der sich selbst im Spiegel betrachtet. Andy Kassier führt vor, wie dieser virtuellen Welt das Entscheidende fehlt. Echtes Leben macht sich durch Brüche spürbar, Schönheit wird erst durch das Unvoll- kommene schön. Der Bruch, das Seltsame, verleiht der Welt das wahre Leben. „Das Schöne ist immer bizarr“. (Charles Baudelaire, Curiosités esthétiques, 1855)

Pixy Liao: „Things We Talk About“ (2013)
Pixy Liao: „Things We Talk About“ (2013)

Als eine Frau, die in China aufgewachsen ist, war ich daran gewöhnt zu glauben, ich könnte nur jemanden lieben, der älter und reifer als ich wäre, der seine Rolle als mein Beschützer und Mentor einnehmen würde. Dann traf ich Moro, meinen jetzigen Freund. Da er fünf Jahre jünger als ich war, merkte ich, wie sich das gesamte Kon- zept von Beziehung veränderte, sich vollkommen umkehrte. Ich wurde zu einer eigen- verantwortlicheren und stärkeren Person.

Einer meiner männlichen Freunde stellte sogar in Frage, wie ich mir auf dieselbe Weise einen Freund auswählen konnte so wie es Männer mit ihren Freundinnen täten. Und ich dachte mir „Verdammt richtig. Das ist genau das, was ich mache. Und warum auch nicht!“

Ich begann mit dieser Beziehung zu experimentieren. Immer wieder inszenierte ich alle möglichen Situationen für Moro und mich, in denen wir für Aufnahmen posierten. Meine Fotografien untersuchen dabei alternative Möglichkeiten heterosexueller Be- ziehungsmodelle. Sie stellen die Norm solcher Beziehungen in Frage. Was geschieht, wenn Mann und Frau ihre Geschlechterrollen und Machtverhältnisse miteinander tauschen?

Da mein Freund Japaner ist und ich Chinesin bin, beschreibt das Projekt Experimental Relationship gleichzeitig eine Liebes- und Hassbeziehung. Es ist auf Dauerhaftigkeit angelegt und wächst zusammen mit unserer tatsächlichen Beziehung. Niemals hat das Projekt jedoch den Anspruch, eine Dokumentation unserer Partnerschaft zu sein.

Alexey Shlyk: „The Vase“ aus der Serie „The Appleseed Necklace“ (2016)
Alexey Shlyk: „The Vase“ aus der Serie „The Appleseed Necklace“ (2016)

In seiner jüngsten Arbeit The Appleseed Necklace verarbeitet Alexey Shlyk Erinnerungen an die einst vorherrschende DIY-Kultur in seiner Heimat, die sich in seiner frühen Kindheit entwickelt hat. Inspiriert vom Einfallsreichtum und handwerklichen Geschick der Menschen, die unter Bedingungen ständiger Knappheit leben, entdeckt er darin eine gewisse Schönheit und reinszeniert alltägliche Dinge seines Zu- hauses, um sichtbar zu machen, wie die postsowjetische Gesellschaft heute funktioniert.

Alexey Shlyk wurde 1986 in Weißrussland geboren, als der Staat noch Teil der Sowjetunion war. Der Zu- sammenbruch des sowjetischen Kommunismus im Jahr 1991 ist nach wie vor eines der bedeutendsten und turbulentesten Ereignisse der jüngeren Geschichte, dessen Schockwellen weltweit zu spüren waren. Die Länder des Ostblocks durchliefen einen Übergang vom kommunalen zum individualistisch, markt- wirtschaftlichen Denken. Familien sahen sich gezwungen, kreativ und eigenverantwortlich zu sein, wenn sie über die Runden kommen und überhaupt überleben wollten.

Die Serie The Appleseed Necklace basiert auf den Kindheitserinnerungen von Alexey Shlyk. In diesem Werk werden kleine persönliche Anekdoten zu sozio-historischen Untersuchungen über menschliche Flexibilität, Kreativität und Überlebensinstinkt. Ein Fahrradrad wird zu einem Kronleuchter, eine zerbro- chene Vase wird mühsam wieder zusammengeklebt und ein Hühnerstall wird aus Altholz gebaut.

Sorgfältig baut Shlyk Faksimiles aus Erinnerungen: Sie sind also nicht die Dinge selbst. Diese Objekte haben den komplexen Filter der Zeit durchlaufen, der bestimmt, was übrig bleibt und was verloren geht. Seine Bilder sind tatsächlich so subjektiv wie die Fotografie selbst, die die Zeit zerhackt und verändert, während sie vorgibt, die Realität zu zeigen.

Alexey Shlyks fotografisches Werk versetzt sich gleichzeitig in die Gegenwart und in die Vergangenheit und bildet eine Ode an die winzigen Akte, die das Gewicht der Geschichte tragen.

Ausgestellte Werke


Paper Hat
Hauptsächlich von Konstrukteuren verwendet, war es das Spielzeug Nummer eins für die Kriegsspiele der Kinder.

The Lamp
Basierend auf einer Geschichte, die von einem Freund erzählt wurde, ist diese Lampe eine Rekonstruktion des traditionellen Radkronleuchters, der während einer der verrückten Hochzeitsfeiern zerstört wurde, die in diesem Haus stattfanden..

Weight Lifter
Lukaschenko (der damalige Präsident) erklärte, er habe die Menschen während einer der Finanzkrisen aufgemuntert: Sie haben nicht genug Geld für das Fitnessstudio? Nehmen Sie doch Ziegelsteine und trainieren Sie zu Hause!

The Vase
Ich weiß nicht mehr genau, wer die Vase zerbrochen hat, mein Bruder oder ich. Meine Großmutter brauchte fast eine Woche, um sie aus den kleinen Teilen wieder zusammenzuleimen. Jetzt steht sie immer noch dort, im Haus meiner Eltern.

The Dress
Die Neugestaltung und Umformung der Kleidung, die früher von den Eltern getragen wurden, war eines der wenigen Mittel, um tatsächlich ein Kleid der aktuellen Mode zu besitzen.

Medical Matches
Aktivkohle wurde zur Behandlung von Lebensmittelvergiftungen und zur Vorbeugung eines Katers eingesetzt. Eine dringende Maßnahme war das Schlucken der abgebrannten Streichhölzer. Achten Sie nur darauf, die „Köpfe“ zu entsorgen!

The Potato Picker
Es ist in Belarus immer noch ganz normal, Studenten fast obligatorisch zum Kartoffelsammeln in den Sommerjob zu schicken. Mein Klassenkamerad kam unvorbereitet zu dieser staubigen Arbeit, und der gewiefte Traktorfahrer fertigte eine Schutzbrille aus vorhandenem Material – einer Plastikflasche und einer Gummischnur – an. Diese Fähigkeit, aus dem Nichts etwas Lebenswichtiges zu machen, hat mich wirklich überrascht.

The Horse
Es war ein großer Moment in meinem Leben, dieses Holzpferd zu besitzen, das mein Vater gebaut hat. Ich habe versucht, es sorgfältig aus meinen nostalgischen Gefühlen dieses Moments zu rekonstruieren.

The Chair
Nichts wurde weggeworfen, auch wenn es im Moment keine offensichtliche Notwendigkeit gab, es zu behalten. Später wurden die aufbewahrten, noch funktionstüchtige Teile zur Reparatur anderer Objekte verwendet.

Umbrella
Das Innere eines Fahrradreifen war eine Art Schatzmaterial. Der dünne und leichte Gummi wurde zur Befestigung verschiedener Dinge verwendet – vom Regenschirm bis zum Schlauchboot.

Flower Pot
Ähnliche Blumentöpfe sind heute in fast jeder Stadt der postsowjetischen Region zu sehen. Ich habe keine klare Erklärung für diese Objekte, aber ich vermute, dass es sich hier um die Wiederverwertung von Material und gleichzeitig eine Quelle der Freude für die Besitzer handelt.

The Patchwork
Alte Kleider wurden nie weggeworfen. Sie wurden auf jede erdenkliche Art und Weise wiederverwertet – angefangen bei den Seilen, mit denen die Tomaten im Garten gestützt wurden, bis hin zu den schönen Patchworkdecken und Vorhängen.

Fishing Shrimp
Eines Sommers fuhren wir in den Urlaub ans Meer. Genau in dem Moment, als wir zum Wasser kamen, sah mein Vater, dass es voller Garnelen war. Er rannte zu der Wohnung, in der wir wohnten, und kam mit einem Kissenbezug zurück. Wir hatten ein köstliches Abendessen an diesem Tag!

Mayonnaise Hair Nest
Inspiriert durch einige Westernfilme wurden hohe Frisuren sehr populär. Um dieses Aussehen zu erreichen, wurden alle möglichen Gegenstände in den Haaren der Frauen versteckt. Einige Leute sagen, dass leere Mayonnaisendosen am besten dazu geeignet waren.

The Chicken House
‚Dachas‘ oder Ferien-Sommerhäuser sind ein spezifisches kulturelles Phänomen des postsowjetischen Raums. Auf diesen winzigen Inseln der Freiheit werden meist Bauten aus allen zugänglichen Materialien errichtet.

Moonshine
Hausgemachter Alkohol war zu allen Zeiten ein wichtiges Produkt und in den meisten Fällen konnte er sogar Geld ersetzen. Ich denke, dass so ziemlich jede Familie zu verschiedenen Zeitpunkten entweder Hauswein oder 'Samogon' hergestellt hat.

Baby Bed
Mein allererstes Bett war aus Stühlen gemacht, die zusammengesetzt wurden. Ich erinnere mich an nicht viel davon, außer dass ich versuchte, aus diesem kleinen Käfig zu entkommen.

Green Corner
Früher konnte man grüne Ecken in Schulen, Polikliniken oder anderen Institutionen finden. Vielleicht sollten diese den Kindern beibringen, wie man mit der Natur umgeht, aber später wurden einige Pflanzen durch Versionen aus Plastik ersetzt.

Storage Car
Da man in den 90er Jahren nichts weggeworfen konnte, war das Auto ein großartiger Ort, um Material auf dem Weg zum Sommerhaus zu lagern.

Iiu Susiraja: „Garden Party is Over“ (2018)
Iiu Susiraja: „Garden Party is Over“ (2018)

Die Selbstporträts der finnischen Künstlerin Iiu Susiraja sind in der Ausstellung TRAUTES HEIM die künstlerische Antwort auf die „Selfies“ von Andy Kassier. Der Kontrast könnte nicht größer sein. Im Gegensatz zu der makello- sen und als perfekt simulierten Welt Andy Kassiers unterläuft Susiraja gängige Schönheitsideale und umgibt sich mit kleinbürgerlichem Ambiente. Sie täuscht nichts vor, beschönigt nichts. Sie nimmt das, was ist und treibt es ad absurdum. Darin entfaltet sich ihre künstlerische Wirkung und Kraft. Wie Kassier ist sie selbst die Grundlage des kreativen Schaffens, sind ihre Inszenierungen bis ins kleinste Detail perfekt. Sie verwendet jedoch keine Palmen oder Luxusjachten als Insignien der Macht, sondern Kettensägen, Luftballons oder Brathähnchen. Ihre Macht ist, so zu sein, wie sie ist. Und die demonstriert sie im Umgang mit alltäglichen Accessoires in absurd inszenierten Posen. „Ich trete selbst in meinen Bildern auf. Das ist praktisch, denn ich bin immer verfügbar und kann mich allen mögli- chen Sachen unterziehen“, sagt sie über ihr künstlerisches Vorgehen. Und das geht weit über Kategorien von Männ- lich oder Weiblich hinaus, auch wenn sie auf zwischenmenschliche Verhältnisse explizit Bezug nimmt mit Titeln wie Happy bride , Fair play with ex oder Goodbye playboy cover. „Komischerweise denken die Leute, ich wollte Schönheits- ideale kritisieren oder irgendwelche sozialen Probleme ansprechen. Das ist aber nicht meine Absicht.“

Susiraja weiß, dass ein guter Komiker Requisiten braucht. Die Objekte selbst müssen Charakter haben. „Es fängt alles mit dem Objekt an.“ Und die sucht sie sich dezidiert aus auf Flohmärkten, Second Hand oder Recycling Shops. Sie ist die Herrin über ihre Welt und deren Dinge, mit denen sie sich ablichtet. Furchtlos und manchmal brutal. Sie spießt ein rohes Hähnchen auf eine Kettensäge und präsentiert sich damit in Lovely wife (2018). Mit einem Rasen- mäher ist sie kurz davor, das Teegeschirr „zu mähen“ in Garden party is over.(2018), trennt Fußball und Gummiente in zwei exakt gleiche Hälften in Fair play with ex (2019). Sie spielt mit ihrem Prozedere an die One Minute Sculptures von Erwin Wurm an, geht aber in ihren Inszenierungen weiter. Denn entscheidend ist der direkte Blickkontakt, den sie einfordert, während sie mit Accessoires wie einem Regenschirm, High-Heels, einer Schere, Kissen, Kuchen, Fischen posiert. Und dieser Blick ist mehrdeutig, schwer einzuordnen. Einsamkeit schwingt mit, denn stets ist sie allein mit all diesen Objekten. Der Platz im Bett neben ihr ist leer oder besetzt mit einem Brathähnchen auf einem Silbertablett (Dinner, 2017). Nicht mit einem Menschen, mit einem Klodeckel flirtet sie in Flirting with toilet seat cover (2018) zwischen Lampenschirm und Zimmerpflanze, eine türkise Klobrille über dem Kopf. Das könnte clown- esque sein, wenn es nicht etwas Bitteres hätte. Doch die drastische Komik verhindert das Rührselige. Es ist, was es ist. Nicht der Mensch, der sich was vormacht, sondern derjenige, der sich annimmt, wie er ist und damit anarchisch Schabernack treibt. Darin liegt ihre Stärke.

„Der Humor ist nicht resigniert, er ist trotzig, er bedeutet nicht nur den Triumph des Ichs, sondern auch den des Lustprinzips, das sich hier gegen die Ungunst der realen Verhältnisse zu behaupten vermag.“ (Sigmund Freud).

Erwin Wurm: „Das ist falsch“ (2018)
Erwin Wurm: „Das ist falsch“ (2018)

„Kann der Begriff der Lächerlichkeit eine Skulptur sein? Kann der Begriff der Peinlichkeit eine Skulptur sein? Darüber denke ich seit Jahren nach.“. (Erwin Wurm)

In seiner so symbolhaften wie skurrilen Auseinandersetzung mit dem alltäglichen Leben ist Erwin Wurm einer der erfolgreichsten Künstler der Gegenwart. Neben den Pionieren der Experimentalfotografie Anna und Bernhard Blume ist Wurm der wichtige Ausgangspunkt innerhalb der Ausstellung TRAUTES HEIM. Seinen Witz setzt er ein, um den „Alltag aus einer anderen Perspektive“ zu zeigen. „Humor ist eine Waffe der Seele im Kampf um ihre Selbsterhaltung“, schrieb schon der Psychiater Viktor Frankl.

In seiner 2016 entstandenen Fotoserie Nudelskulpturen geht er der Frage nach, ob auch gekochte Spaghetti zum skulpturalen Objekt werden können. Das ist richtig. steht als Bildtitel unter dem mit einer Nudel verzierten beigen Lampenschirm – Das ist falsch. unter einer ebenso dekorierten dunklen Lampe. Diese willkürlichen Zuschrei- bungen besitzen einen moralischen Duktus, der durch das absurde Motiv hinterfragt wird.

Mit der ungewöhnlichen Darstellung des täglichen Lebens nimmt Erwin Wurm die kleinbürgerliche Enge der Konsumgesellschaft aufs Korn. „Ich bin ein sehr politischer Mensch.“, sagt er im Interview. „Besonders interessiert mich aber das paradoxe Verhältnis zwischen Realität und Abbild beziehungsweise Vorstellung der Realität.“

Der Körper und die körperliche Erfahrung stehen im Fokus seines überbordenden Schaffens – etwa wenn er sein Elternhaus mit allen Details samt Innenräumen und Inventar nachbaut und betretbar macht. Narrow house (2010) macht die beklemmende Enge dieses elterlichen Zuhauses physisch erlebbar, auf eine Breite von 1,1 Metern zusammengestaucht. Das 2003 zuvor entstandene, ebenfalls begehbare Fat House wird zum Symbol einer verfetteten Wohlstandsgesellschaft gegen die Wurm immer wieder künstlerisch angeht. Ein Vorstadthaus mit Satteldach gerät aus den Fugen, die Wände sind aufgequollen. Im Video beginnt es, wie ein lebendiges Wesen zu sprechen und sich in Frage zu stellen: „Wer bin ich eigentlich?“ Ein Hinweis darauf, dass wir besser dieser existentiellen Frage nachgehen sollten, statt sie mit Konsum zu übertünchen?

„Mein Werk handelt vom Drama der Belanglosigkeit der Existenz. Ob man sich ihr durch Philosophie oder durch eine Diät nähert, am Ende zieht man immer den Kürzeren.“ (Erwin Wurm).

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