Wir brauchen Verwandtschaft mit allem, was lebt und was nicht lebt; mit Tieren, Pflanzen, Menschen, – sogar mit den Dingen, die uns umgeben. Davon ist sie überzeugt. Auf die Frage, wie man auf die aktuellen Bedrohungen, Verheerungen und Verwerfungen der aktuellen Zeit noch reagieren kann, lautet Haraways Antwort: »Unruhig bleiben«, so auch der Titel ihres letzten 2017 erschienenen Buches.
Zur Ausstellung »Warte, wenn der Mond aufgeht …«
Inspiriert von der chinesischen Landschaftsmalerei bearbeitet Sandra Kantanen (*1974, Finnland) ihre Fotografien digital nach, sodass traumartige Tableaus entstehen. Sie sind ästhetische Ausflüge in eine Welt der Illusion, ein Changieren zwischen Malerei und Fotografie. Eine trügerische Idylle, denn sie spürt Orten nach, an denen Kriege ihre Spuren hinterlassen haben. So setzt sie finnische Wälder mit Rauchbomben in Szene, in denen kriegerische Auseinandersetzungen im Zweiten Weltkrieg stattgefunden haben. »Die psychedelische Farbe des Rauchs löst die Landschaft von der Realität ab und zwingt den Betrachter, genauer hinzusehen. Ich frage mich, ob Bäume Erinnerungen haben« (Sandra Kantanen).
Sharbendu De (*1978, Indien) erzählt die Geschichte der indischen Minderheit Lisu aus dem Norden Indiens, die als autarke Gemeinschaft symbiotisch mit der Natur zusammenlebt und die für den Künstler „Vorboten der Hoffnung“ sind. Einen kolonial-paternalistischen Blick lehnt De ab. Er lässt vielmehr eine mythologische Symbolik in seine Bilder einfließen, die wie Filmstills wirken und an magischen Realismus erinnern. »Imagined Homeland« (2013-19) entstand über einen Zeitraum von sieben Jahren und berücksichtigt die Philosophie und das volkstümliche Brauchtum der Lisus und deren archetypischen Verbindung zwischen Mensch, Tier und einer überwältigenden Natur, die die aufgeladene Kulisse für diese dichten atmosphärischen Fotografien bildet.
Eine kreative Auseinandersetzung mit organischem Leben ist die Serie »Fruiting Bodies« (2020) von Mia Dudek (*1989, Polen). Aufgenommen im einfachen, glatten und werblichen Stil einer Produktfotografie präsentiert sie u.a. Austernpilze, als seien sie das neueste Smartphone oder der neueste Turnschuh. Üppig, fremdartig und zutiefst präsent. Sie werden zu Symbolen für dynamische, organische Vernetzung, sind in der Lage, die Schwellen, Barrieren und Beschränkungen, die die physische Welt strukturieren, zu überwinden und zu durchbrechen. Ganz so, wie dies Donna Haraway in ihrem theoretischen Ansatz postuliert: Sich mit allen Lebensformen und Umwelten zu vernetzen, miteinander und nicht nur nebeneinander zu leben.
Umwertungen finden auch im Werk von Jesus Torío (*1992, Spanien) statt. Der Beginn der Serie »Lost Memoirs« (2020ff) begann mit einem Misserfolg. Sein Drucker ging defekt und produzierte nur noch Linien in den Farben Cyan, Gelb und Magenta. Was erst wie ein Scheitern aussah, hatte seinen besonderen visuellen Reiz. Wie grob gepixelte abstrakte Gemälde wirken die so entstandenen Fotografien. Sie entwickeln eine eigene, entrückte Ästhetik »… wie verzerrte Erinnerungen oder verschwommene Träume.« (Jesus Trío).
Leonard Suryajaya (*1988, Indonesien) nutzt die Fotografie, um die Grenzen von Intimität, Gemeinschaft und Familie auszuloten. In aufwendig inszenierten Fotografien mit überbordenden, konkurrierenden Mustern und Farben, schafft Leonard Suryajaya absurde, aber liebevolle Tableaus, die ihn selbst, seine Familie und seine Gemeinschaft zeigen. Viele von Suryajayas Untersuchungen wurzeln in der Besonderheit seiner Erziehung als indonesischer Staatsbürger chinesischer Abstammung, als Buddhist, der in einem mehrheitlich muslimischen Land an christlichen Schulen erzogen wurde, und als jemand, der sich von seiner Familie und den Definitionen seiner Kultur von Liebe und Familie entfernt hat. Seine Arbeiten zeigen, wie das Leben nicht nur von den eigenen emotionalen Bindungen durchdrungen ist, sondern auch von größeren, externen Geschichten wie Exil, Religion, Staatsbürgerschaft, Pflicht und Zugehörigkeit.
Die Aufnahmen der finnischen Fotografin Eeva Karhu (*1980) schimmern wie impressionistische Malerei. Sie geben der Zeit eine emotionale Dimension: Für ihre Serie »En plein air« (2022) sammelt Eeva Karhu Eindrücke, die sie bei ihrem täglichen Spaziergang einfängt. Um das Große im Kleinen zu finden, geht sie im Kreis »… auf einem Weg ohne Anfang und Ende. Ich fotografiere diesen Weg, wobei jeder neue Anfang der Horizont des vorherigen ist. Indem ich meine Fotos übereinanderlege, bilden sie ein kollektives Bild, das meine Reise dokumentiert. In gewissem Sinne halte ich die Zeit fest und setze damit ihre Bewegung für immer fort.« (Eeva Karhu)
Zum Jahresthema der 12. Darmstädter Tage der Fotografie: Tilt Shift – Experiment als Normalzustand
Die zeitgleichen und weltweiten Krisen offenbaren uns ein lange unvorstellbares Scheitern, auch in bisher sicher geglaubten Handlungsfeldern unserer Gesellschaft. Obwohl es keinen Anspruch auf einen Normalzustand der Welt gibt, schwindet doch das Gefühl der Sicherheit für eine immer größer werdende Anzahl von Menschen: Gewohnte Sichtweisen brechen weg, Gewissheiten verschieben sich. Das Versprechen, alles bleibt gut, oder wird schon wieder gut werden, löst sich gerade auf und lässt sich kaum noch von der Gegenwart in die Zukunft weiterführen. Selbst Menschen, die sich bislang in ihrem Lebensraum sicher wähnten, nehmen ihren Alltag immer öfter bedroht war. Denkmuster werden hinterfragt und diskutiert – konstruktiv von Gruppen und Individuen, aber auch polarisierend von Faktenverdrehern. Alte Diskurse über eurozentrisch und postkolonial geprägte Blicke auf die Welt – im Großen und Kleinen – werden fortgeführt. Krisenzeiten bedeuten nicht nur Verunsicherung, sondern können – trotz allem – auch Chancen aufzeigen. Potentiale werden, teils der Not geschuldet, auf allen Ebenen auf Freiräume, Neues und Weiterentwicklungen überprüft. Wird das Experiment, sich ständig neu orientieren zu müssen, jetzt zum Normalzustand? Wie kann Fotografie die enormen Veränderungen erfassen? Welche Bilder ermöglichen es uns, eine verunsicherte, diverse Welt im turbulenten und komplexen Wandel besser zu verstehen – und den offenen Ausgang des Experiments im Blick zu haben?