Eis liegt in der Luft

Vereisungsbedingungen für Flugzeuge in großer Höhe besser verstehen

11.01.2016 von

Markus Schremb und Daniel Kintea von der TU Darmstadt untersuchen, wie Flugzeuge im Flug vereisen. Mit ihren Experimenten und realitätsnahen mathematischen Modellen sollen Risiken und Kosten minimiert werden.

Experimentieren, um die Flugsicherheit zu erhöhen: Markus Schremb (links) und Daniel Kintea. Bild: Katrin Binner
Experimentieren, um die Flugsicherheit zu erhöhen: Markus Schremb (links) und Daniel Kintea. Bild: Katrin Binner

Als der Air France-Flug 447 in der Nacht zum 1. Juni 2009 auf dem Weg von Rio de Janeiro nach Paris über dem Atlantik abstürzte und 228 Insassen in den Tod riss, ahnte niemand, dass die Vereisung der Geschwindigkeitssensoren die Katastrophe eingeleitet hatte. Durch die Vereisung hatte sich der Autopilot abgeschaltet und die Flugsteuerung war in einen alternativen Modus übergangen. Anstatt die für diese Situation vorgeschriebene Prozedur einzuleiten, machten die Piloten einen Fehler nach dem anderen.

Dadurch kam es zu einem Strömungsabriss am Tragflügel. Es folgte ein Verlust des Auftriebs und die Maschine stürzte ins Meer. Vereisung ist und bleibt eine ernste Gefahr in der Luftfahrt. Daher muss jeder neue Flugzeugtyp vor der Zulassung beweisen, dass er auch dann sicher fliegt, wenn sich während des Flugs Eisablagerungen bilden.

Das geschieht in einem aufwendigen Zertifizierungsverfahren. Dafür sind teure Flug- und Windkanalversuche notwendig. „Es gibt weltweit nur eine Handvoll Anlagen, die für solche Tests geeignet sind“, sagt Dr. Ilia Roisman vom Fachgebiet Strömungslehre und Aerodynamik an der TU Darmstadt, der zusammen mit Dr. Suad Jakirlic die Arbeiten von Kintea und Schremb an diesem Fachgebiet betreut. Leiter des Fachgebiets ist Professor Cameron Tropea.

Oberflächenvereisung besser verstehen

„Wenn wir die Physik der Oberflächenvereisung besser verstehen und in realitätsnahen mathematischen Modellen abbilden können, sollten für die Zertifizierung neuer Flugzeugtypen weniger teure Windkanal-Experimente nötig sein“, sagt Roisman weiter. Genau hier setzen die Arbeiten von Schremb und Kintea an. Beide forschen im Rahmen größerer Projekte. Schremb arbeitet in dem SFB-TRR75 mit, Kintea in dem EU-Projekt HAIC.

Die beiden Wissenschaftler untersuchen zwei verschiedene Formen der Vereisung. Schremb beschäftigt sich mit der Tragflächen-Vereisung durch unterkühlte Wassertropfen während des Steig- und Sinkflugs nach dem Starten oder vor dem Landen.

Kintea untersucht die Vereisung von Triebwerken und Sensoren durch Eiskristallwolken auf Reiseflughöhe. Ohne Gegenmaßnahmen hätten beide Vereisungstypen dramatische Konsequenzen für die Flugsicherheit.

Eisablagerungen an den Tragflächen verändern die Form der Flügelprofile. Die wachsende Eisschicht erhöht das Gewicht des Flugzeugs, der Auftrieb nimmt ab und der Widerstand wird größer. Ohne Gegenmaßnahmen verbraucht das Flugzeug mehr Kerosin und verliert vielleicht sogar seine Steuerbarkeit. Derzeit werden durch die Beheizung der Tragflächen-Vorderkanten Eisschichten angetaut und fallen dadurch ab. Eine Vereisung der Triebwerke in großer Höhe blockiert den Luftstrom, was zu einem Schub- und Effizienzverlust führt und im schlimmsten Fall den Ausfall der Triebwerke zur Folge hat.

Auf unterkühltes Wasser treffen die Flugzeuge beim Durchfliegen niedrig liegender Wolken, weil unterkühlte Wassertropfen nur im Bereich bis etwa minus 20 Grad Celsius vorliegen. Schremb untersucht die hydro- und thermo-dynamischen Prozesse beim Aufprall und der Erstarrung unterkühlter Tropfen, um diese Prozesse dann modellieren zu können.

„Treffen die unterkühlten Tropfen in den niedrig liegenden Wolken auf die angeströmten Flugzeugprofile, gefriert ein Teil sofort zu Eis“, erklärt Schremb. „Da beim Gefrieren latente Wärme frei wird, gefriert gerade so viel des Tropfens, bis die anfängliche Unterkühlung aufgebraucht ist. Der noch nicht gefrorene Teil breitet sich als Wasserfilm auf den Tragflächen aus und gefriert dann ebenfalls durch die Kälte des Untergrunds“, so der Maschinenbauingenieur weiter.

Weil die Lufttemperatur mit steigen der Flughöhe sinkt und Wasser spätestens ab minus 40 Grad Celsius nur noch als Eis vorliegt, kann es nur in bestimmten Flughöhen zu einer Vereisung durch unterkühlte Wassertropfen kommen.

Schremb interessiert sich besonders für die kristallinen Strukturen, die beim Gefrierprozess entstehen, die sogenannten Dendriten. Er konnte zeigen, dass die Kristallisationsfront zwar aus vielen wachsenden Dendriten besteht, dass diese Dendriten sich aber nicht gegenseitig beeinflussen. „Die Front von mehreren Dendriten friert genauso schnell wie die Front eines einzelnen Dendriten“, sagt Schremb. „Daher muss nicht jeder einzelne Dendrit modelliert werden, sondern nur die Erstarrungsfront. Das wird die Berechnungen ganz erheblich vereinfachen.“

Schremb konnte auch zeigen, dass die thermischen Eigenschaften der Oberfläche den Gefrierprozess beeinflussen, und zwar über den Winkel, mit dem die Erstarrungsfront wächst. „Wenn man diesen Winkel durch geeignete Maßnahmen maximieren könnte, wäre die Geschwindigkeit, mit der die Oberfläche vereist, minimiert“, resümiert er. „Damit wäre viel erreicht.“

Die Vereisung der Triebwerke in großer Höhe untersucht Daniel Kintea. Dieses Problem kann beim Durchfliegen von Eiskristallwolken oder dem Überfliegen von Gewitterzellen auf Reiseflughöhe entstehen. Bei diesem Prozess beginnt die Vereisung auf einer warmen Oberfläche.

Das Problem ist lange Zeit gar nicht richtig wahrgenommen worden, weil man dachte, dass die Eiskristalle an den kalten Teilen des Triebwerks abprallen und an den warmen Teilen vollständig schmelzen. Unter bestimmten Bedingungen entsteht aber ein richtiger Eisansatz.

„Das mag zwar paradox klingen“, sagt Kintea. „Aber Sand klebt auch auf einer schrägen Oberfläche, wenn diese nass ist.“ Bei der Triebwerksvereisung fliegen Eiskristalle in die warmen Triebwerke, wo sie schmelzen. Dadurch entsteht ein Gemisch aus Eis und Wasser, welches an den Oberflächen kleben bleibt, ähnlich wie nasser Sand. Das Schmelzen der anhaftenden Partikel entzieht dem Metall weitere Wärme, bis der Gefrierpunkt erreicht ist. Dann gefriert auch der Wasserfilm auf der Oberfläche, an dem die kalten Eispartikel anhaften.

Nach dem gleichen Prinzip können auch beheizte Sensoren einfrieren, wie bei dem Air France-Unglück. Bisher versuchen die Flugzeuge, Eiswolken und Gewitterzellen zu umfliegen oder in eine wärmere Luftschicht abzusinken, in der das Eis dann wieder schmelzen kann. „Wir wollen diese Vereisungsprozesse präzise modellieren“, sagt Kintea. „Dazu müssen wir wissen, wie die Eispartikel in der Atmosphäre aussehen, wie sie sich verhalten, welchen Luftwiderstand sie haben und wie sie schmelzen. Die bisherigen Modelle gehen davon aus, dass die Eispartikel kugelförmig sind und wie eine Kugelschmelzen. Das ist falsch.“

Kintea hat insgesamt drei Prozesse modelliert: das Schmelzen eines einzelnen Eiskristalls, den Aufprall und das Verhalten einer porösen Eisschicht. „Ob Eispartikel abprallen oder hängen bleiben, hängt von der Aufprallgeschwindigkeit, der Oberflächenspannung und der Größe und Dichte der Eispartikel ab“, erklärt der Maschinenbauingenieur. „Alle vier Größen werden in der dimensionslosen Weber Zahl zusammengefasst. Unterhalb einer kritischen Weber-Zahl bleiben die Partikel haften.“

Kintea hat auch die zusätzlich auftretenden physikalischen Phänomene berücksichtigt, die beim Schmelzen einer porösen Eisschicht auftreten. Seine mathematischen Modelle bilden die Realität viel besser ab als die vereinfachten und idealisierten Modelle der Vergangenheit.

Lesen Sie diesen und weitere Artikel in der hoch³ FORSCHEN 4 / 2015