Die vernetzte Produktion erleben

Prozesslernfabrik der TU Darmstadt erweitert Angebot um Thema Industrie 4.0

24.03.2016 von

In der Prozesslernfabrik der TU Darmstadt erfahren Studierende und Unternehmen die Veränderungen, die die Digitalisierungswelle in der Produktion mit sich bringt. Anhand ausgewählter Umsetzungsbeispiele können sie erleben, wie Industrie 4.0 tickt und welche Chancen individuell genutzt werden.

Blick in die Prozesslernfabrik. Bild: Sebastian Keuth

Auf den ersten Blick ist es die Produktionshalle eines metallverarbeitenden Unternehmens: Rohwarenlager, Säge, Dreh- und Fräsmaschinen. Dazwischen stapeln sich blaue Transportboxen mit den Bestandteilen des pneumatischen Zylinders, der hier gefertigt und montiert wird. Ein Netzwerk aus Sensoren, Servern, Touchscreens und mobilen Endgeräten verwandelt die Prozesslernfabrik der TU Darmstadt bei näherer Betrachtung jedoch in eine Industrie-4.0-Modellfabrik.

Der Begriff Industrie 4.0 beschreibt die digitale Integration von Produkt, Maschine, Mitarbeiter und sogar „Kunden“ in Echtzeit über das Internet. Die Produktion soll dadurch schneller, kundenindividueller sowie energie- und materialeffizienter werden.

Die nach wie vor produktionsintensive deutsche Industrie stehe momentan vor der großen Aufgabe, die aus der Informationstechnologie getriebenen Technologien in die reale Produktionswelt zu überführen, sagt Prof. Dr.-Ing. Eberhard Abele. Er leitet das Institut für Produktionsmanagement, Technologie und Werkzeugmaschinen (PTW) und ist einer der Initiatoren der Prozesslernfabrik. Eine Herausforderung werde aber auch sein, vor allem den Mittelstand von den Vorteilen der Industrie 4.0 zu überzeugen.

Neben Studierenden sind daher vor allem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Führungskräfte mittelständischer Unternehmen die Zielgruppe von neu konzipierten und didaktisch aufbereiteten Lehrgängen, die Antworten auf Fragen zu Industrie 4.0 geben sollen. „Unser Ziel ist es, Kompetenz für einen methodischen Umgang mit der Digitalisierung von Produktion zu vermitteln“, so Prof. Joachim Metternich, ebenfalls Institutsleiter des PTW. „Eine der Voraussetzungen hierfür ist das vom Hessischen Wirtschaftsministerium geförderte Projekt ‚Effiziente Fabrik 4.0‘.“

An mehreren Anwendungsbeispielen werden die Vorteile der vernetzten Produktion vor allem für kleinere und mittelständische Unternehmen praxisnah nachvollziehbar.

Bauteile als Informationsträger

Oleg Anokhin berichtet von der Arbeit in der Prozesslernfabrik. Bild: Sebastian Keuth
Oleg Anokhin berichtet von der Arbeit in der Prozesslernfabrik. Bild: Sebastian Keuth

„Ein zentraler Punkt ist, dass alle Prozess- und Maschinendaten in einem Leitsystem erfasst sind“, erklärt Oleg Anokhin, Mitarbeiter im Projekt „Effiziente Fabrik 4.0“ am Fachgebiet Datenverarbeitung in der Konstruktion (DiK). Parallel dazu ist jedes zu bearbeitende Bauteil mit einem RFID-Chip ausgestattet: Es bekommt seine persönliche Identifikationsnummer, die durch Sensoren an unterschiedlichen Standorten in der Fabrik ausgelesen werden kann. Bauteile können sich somit an jeder Maschine „anmelden“ und ihre Informationen mitteilen. Ein Beispiel: Die Waage an der Sägemaschine stellt fest, dass eine Kolbenstange mit der ID 983475 zu schwer ist und meldet sie dem Leitsystem als Ausschuss. Gleichzeitig werden die Prozessdaten des Sägevorgangs gespeichert und sind für eine spätere Fehleranalyse verfügbar.

Parallel zur Produktion werden also in Echtzeit Prozessdaten und Messwerte erhoben und Prüfberichte erstellt, die den Bauteil-IDs eindeutig zugeordnet werden können. Bauteile, die als Ausschuss deklariert wurden, sind zum Beispiel im System („softwareseitig“) von der weiteren Bearbeitung ausgeschlossen. Sie können also nicht mehr „aus Versehen“ in die Prozesskette gelangen.

Allumfassendes Abbild des Produktionsprozesses

„Bauteile, Sensoren und Maschinendaten verbinden sich so zu einem allumfassenden Abbild des Produktionsprozesses“, erläutert Eva Schaupp (PTW), die das Projekt „Smart Tool“ betreut: So werden etwa auch elektrische Leistungsdaten am internen Schaltkreis der Fräsmaschine abgegriffen oder der aktuelle Kühlmittelstand an der Drehmaschine ausgelesen.

„Wenn wir diese bisher getrennt erhobenen Daten anwendergerecht visualisieren und verknüpfen, können wir schneller herausfinden, wo noch Problemursachen oder Verbesserungspotenziale sind und wie die Produktion noch effizienter machen können“, sagt Schaupp.

Durch die Implementierung von Lösungen und Ansätzen der Industrie 4.0 erfährt nicht zuletzt die Rolle der Beschäftigten einen erheblichen Wandel. So können in der Prozesslernfabrik Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – unter anderem mittels einer Datenbrille – beim Umbau („Rüsten“) einer Maschine von einem nicht in der Halle anwesenden Experten angeleitet werden.

Industrie 4.0 – die „Vierte industrielle Revolution“?

Enorme Steigerung der Speicher- und Prozessorleistung in der Datenverarbeitung sowie das „Internet der Dinge“ werden die Fabrik von morgen erneuern und Potenzial für Qualitätsverbesserung, Kostenoptimierung mit einer Flexibilität und Wandelbarkeit liefern, prognostizieren Experten. Industrie 4.0 ist ein Marketingbegriff, der aber z.B. in der Automobilindustrie längst Realität geworden ist: „Nach Dampfmaschine, Fließband, Elektronik und IT bestimmen nun intelligente Fabriken (sogenannte Smart Factories) die vierte industrielle Revolution.“ (Plattform Industrie 4.0 des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie?

Offene Fragen sind unter anderem: Welche Unternehmen profitieren vom Potential der Industrie 4.0? Wie wird sich die Vision der „intelligenten Fabrik“ durchsetzen und welche Auswirkung wird das auf die betroffenen Beschäftigten haben?