Aus Katastrophen lernen

Wie Gesellschaften mit Krisen umgehen

13.05.2020

Wie reagieren Gesellschaften auf Katastrophenereignisse? Das hat Nadja Thiessen in ihrer Dissertation im Rahmen des Graduiertenkollegs KRITIS anhand des Umgangs mit Flutkatastrophen untersucht. Die Frage nach der Leistungsfähigkeit von autoritären und demokratischen Systemen lässt sich auch auf die Coronakrise anwenden.

Flutkatastrophe in Dresden, 1939: Nadja Thiessen hat untersucht, wie Gesellschaften auf Katastrophenereignisse reagieren.

Sicherheit, Wohlstand und Wachstum von Städten hängen auch von ihren Infrastrukturen ab. Ver- und Entsorgung, Kommunikation und Transport gelten als ihre „Nervensysteme“. Ausfälle oder Störungen können zu dramatischen Krisen führen. Am Beispiel von Hochwasserereignissen in Mannheim und Dresden von 1920 bis 1980 hat Nadja Thiessen den Umgang mit zyklisch wiederkehrenden Gefährdungen von städtischen Infrastruktursystemen erforscht. So konnten verschiedene politische und wirtschaftliche Systeme untersucht werden.

Themenschwerpunkt „Gegen Corona“

Forschende, Studierende und Beschäftigte der Universität engagieren sich in der derzeitigen Corona-Krise auf vielfältige Art und Weise. Der Themenschwerpunkt informiert in einem aktuellen Überblick über die Vielzahl an Hilfsinitiativen und Projekte in Forschung, Lehre und Transfer.

Welchen Einfluss haben konjunkturelle Schwankungen oder Wirtschaftsformen wie beispielsweise die Zentralverwaltungswirtschaft der DDR?

Auffällig war, dass sich hohe Arbeitslosigkeit nicht unbedingt nachteilig auf den Hochwasserschutz der Städte auswirkte und in einigen Fällen sogar förderlich sein konnte. In Dresden konnte beispielsweise in den 1920er Jahren durch sogenannte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die Flutrinne bei Kaditz errichtet und erweitert werden. Diese Flutrinne wird bei Hochwasser kontrolliert geflutet und stellt bis heute einen wichtigen Pfeiler im Hochwasserschutzkonzept der Stadt dar.

Nadja Thiessen
Nadja Thiessen

Wurde eine gründliche Planung jedoch versäumt, das war beispielsweise bei einigen Mannheimer Dammbauprojekten der 1930er Jahre der Fall, konnte die erwünschte Wirkung des vermeintlichen Schutzbaues nicht erreicht werden. Viel mehr entwickelten sich diese Bauten schon nach wenigen Jahren zu wahren Sorgenkindern, denn das dort verbaute Material war von minderer Qualität, und die Dämme nahmen oft schon bei nur leicht erhöhten Pegelständen Schaden.

In der DDR zeigten sich durch die Praxis der Zentralverwaltungswirtschaft besondere Bedingungen. Zum einen waren die Volkseigenen Betriebe (VEB) und Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) für den Schutz des Betriebsgeländes jeweils eigenständig verantwortlich, zum anderen wurden Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Fahrzeuge und Materialien aus den Betrieben für den Hochwasserschutz der Stadt eingesetzt. Durch diese Organisationsform konnten sehr kurzfristig Einsatzgruppen bereitgestellt werden. Allerdings stellten die ehrgeizigen Planziele, die es auch während des Hochwassers einzuhalten galt, eine besondere Herausforderung dar. So wurden bereits in der Vorbereitung die Schutzstrategien darauf ausgerichtet, die Aufrechterhaltung oder zumindest die rasche Wiederaufnahme der Produktion zu ermöglichen und trotz der Störung die ausgerufenen Produktionszahlen zu erreichen.

Welche Unterschiede lassen sich zwischen demokratischen und autoritären Regimen feststellen? Wie äußert sich die politische Ideologie?

In der Weimarer Republik und der Bundesrepublik war der Katastrophenschutz Bestandteil der parlamentarischen Debatten. Von diesen Auseinandersetzungen profitierten wiederum die Schutzstrategien und Vorkehrungsmaßnahmen. Ein weiteres Merkmal demokratischer Systeme ist die vielfältige und freie Presselandschaft. Lokalen und überregionalen Medien war es so möglich, bereits im Vorfeld auf potenzielle Gefahren und Missstände hinzuweisen, während und nach dem Hochwasserereignis fungierten sie als Sprachrohr der Bürgerinnen und Bürger. Die Reflexion und vor allem die folgende Vorbereitung auf neue Ereignisse konnte somit auf breiterer Basis erfolgen.

In autoritären Regimen fand hingegen keine kritische Auseinandersetzung durch Parlament und Medien statt. Vielmehr ist eine enge Verknüpfung von politischer Ideologie und dem Umgang mit der Hochwassergefahr zu erkennen. Die Mannheimer Wasserwehr verlor beispielsweise in der Zeit des Nationalsozialismus einige hochwassererfahrene städtische Angestellte, da sie aus politischen Gründen entlassen oder versetzt wurden. Die Auswirkungen waren auch sehr konkret in der Vorratshaltung von Schutzmaterialien zu spüren. Aufgrund der antisemitischen Ideologie wurden langjährige Abkommen zur Sandsackbelieferung mit regionalen Textilunternehmen, denen jüdische Menschen vorstanden, aufgekündigt.

In der DDR waren am Beispiel Dresden solche drastischen Auswirkungen nicht festzustellen, allerdings wurden hier Ereignisse wie Hochwasser als Anlass genutzt, um die eigene Ideologie propagandistisch in Szene zu setzen. Auf verschiedenen Ebenen betonten die Funktionärinnen und Funktionäre den Zusammenhalt und die große Hilfsbereitschaft innerhalb der sozialistischen Gesellschaft und die fürsorgliche Rolle des Staates. Zugleich grenzten sich die Machthabenden vom vermeintlich schlechten Umgang mit der Problematik in der Bundesrepublik ab. In der Tagespresse waren kaum kritische Meldungen zu vernehmen. Interne behördliche Dokumente belegen allerdings, dass hinter verschlossenen Türen durchaus eine reflektierte Analyse des Einsatzes und der erkannten Missstände möglich war.

Wie lassen sich Ihre Erkenntnisse auf die derzeitige Corona-Krisenlage anwenden?

Zunächst kann der Umgang mit Hochwasser nicht direkt auf den Umgang mit einer Pandemie, wie wir sie gerade erleben, übertragen werden. Einige Beobachtungen lassen sich dennoch anstellen: Staaten wie beispielsweise Deutschland haben recht früh ihr Handeln gegenüber der Bevölkerung transparent dargestellt und unterbinden die mittlerweile auch kritischer geführte mediale Auseinandersetzung mit den getroffenen Maßnahmen nicht. In Ländern wie Großbritannien und den USA zögerten die Regierungen hingegen lange mit offensiven Maßnahmen und beschworen dann vor dem Hintergrund täglich stark ansteigender Infektionszahlen und unter Zuhilfenahme von Kriegsrhetorik einen nationalen Kurs. Zugleich wird die kritische mediale Auseinandersetzung mit dem (Nicht-)Handeln der Regierungen mitunter harsch zurückgewiesen.

Weiterhin ist zu sehen, wie in einzelnen Ländern unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung der demokratische Staat geschwächt wird. Beispielsweise ist es der Regierung unter Viktor Orbán nun möglich, nahezu widerspruchslos mittels Dekreten im Ausnahmezustand zu regieren und so den eigenen Machtbereich auch für die Zeit nach der Krise auszubauen. Die Politikstile von Donald Trump, Viktor Orbán und auch Boris Johnson ließen eine solche Entwicklung bereits erahnen, allerdings gibt es auch unerwartet positive Entwicklungen, wie beispielsweise ein Blick nach Griechenland zeigt.

Lässt sich eine allgemeine Handlungsempfehlung für die Zukunft ableiten?

Eine allgemeine Handlungsempfehlung auszusprechen ist schwierig, da jede Krise auf ihre Weise einzigartig ist. Dringend notwendig erscheint mir jedoch, dass, sobald es möglich ist, mit der Analyse der Bewältigungsstrategien begonnen wird. Diese Auswertungen und Reflexionen dürfen dabei jedoch nicht nur auf der wissenschaftlichen Ebene vorgenommen werden, sondern sollten bereits früh in die Politik vordringen und dort zu weiteren vorbereitenden Maßnahmen führen.

Als mahnendes Beispiel sollte uns dabei die 2012 vorgestellte Risikoanalyse „Pandemie durch Virus Modi-SARS“ gelten. Darin hatten das Robert-Koch-Institut und verschiedene Bundesbehörden ein Szenario erstellt, welches dem aktuellen Pandemie-Ausbruch ähnelt. In der Ausarbeitung wiesen die Autorinnen und Autoren zudem auf einige Problematiken, wie mangelnde Schutzausstattung, und mögliche Maßnahmen hin, die im Moment ebenfalls gesellschaftlich diskutiert werden. Der rasche Eintritt der Pandemie mag zwar überrascht haben, die Auswirkungen und möglichen Handlungsstrategien müssen allerdings bereits bekannt gewesen sein. Für die Zukunft wäre es wichtig, direkt nach Abklingen des Ereignisses mit den Vorbereitungen für ein mögliches nächstes Ereignis zu beginnen und die nun gemachten Erfahrungen einzuarbeiten.

Hintergrundinformation zur Dissertation von Nadja Thiessen

Infrastruktursysteme sind Bedrohungen durch menschliches/technisches Versagen, kriminelle/terroristische Absichten oder natürliche Vorkommnisse ausgesetzt. Unter den natürlichen Ereignissen sind vor allem Hochwasser interessant, da sie zyklisch auftreten können und somit vermeintlich kalkulierbar sind.

Anhand der Fallstädte Dresden und Mannheim wurde im Rahmen des Graduiertenkollegs KRITIS untersucht, wie von 1920 bis 1980 mit Hochwasserereignissen umgangen wurde. Die beiden Städte haben sich im Untersuchungszeitraum mit der Hochwassergefahr auseinandergesetzt und die potenzielle Gefährdung der eigenen Infrastruktursysteme erkannt. Auffällig war dabei, dass der Umgang mit den Ereignissen stets in einem Kreislauf verlief, der sich in drei Phasen einteilen lässt: In der Vorbereitungsphase wurden räumliche und bauliche Schutzkonzepte entwickelt und die Organisation möglicher Wasserwehreinsätze vorbereitet. Während des Ereignisses galt es, die geplanten Strategien anzuwenden und zugleich auf Unvorhergesehenes zu reagieren. Nach Rückgang des Wassers konnte das Handeln reflektiert werden und die so gewonnenen Erkenntnisse wiederum in die folgenden Vorbereitungsphasen einfließen.

Obwohl dieser Bewältigungskreislauf während des untersuchten Zeitraums beachtlich konstant blieb, unterschieden sich dennoch die Maßnahmen und ihre Wirkungen. Diese wurden nicht nur durch die Intervalle und die Intensität der Hochwasserereignisse beeinflusst, sondern maßgeblich durch die historischen Umstände, wie zum Beispiel das Wachstum der Fallstädte oder die größeren Entwicklungen in Wirtschaft und Politik.

Die Fragen stellte Claudia Staub.