Vom Rugbyball zum Frisbee
Forschungsteam unter Mitwirkung der TU entwickelt neuen Blick auf magisches Zinn
09.06.2020 von Wilfried Nörtershäuser et al./sip
Ein internationales Forschungsprojekt unter Beteiligung von Forschern der TU Darmstadt, des MPIK Heidelberg, der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat in hochpräzisen Messungen in der langen Isotopenkette der magischen Zinnisotope Abweichungen der Kernform von der Kugelgestalt bestimmt. Die Größe, die diese Abweichung quantitativ erfasst, weist ein ungewöhnlich reguläres Verhalten auf: Für einige Kerne entwickelt sie sich fast exakt linear, während sie für andere einen nahezu perfekten parabolischen Verlauf nimmt. Dies liefert wichtige Informationen für die Weiterentwicklung der Kernstrukturtheorie. Die Ergebnisse wurden jetzt in der Zeitschrift „Communications Physics“ veröffentlicht.
Unter allen chemischen Elementen ist Zinn das mit den meisten – nämlich mit zehn – natürlich vorkommenden Isotopen, denn Zinn hat die als „magisch“ bekannte Protonenzahl 50. Darüber hinaus sind 30 weitere, teils sehr kurzlebige Isotope bekannt. Protonen und Neutronen in Atomkernen sind, ähnlich den Elektronen in der Atomhülle, in sogenannten Schalen angeordnet. Ist eine von diesen Schalen komplett gefüllt, weisen die Kerne meist eine größere Stabilität auf als die Kerne in der Nachbarschaft. Man spricht von einer „magischen“ Protonenzahl. Nahe einer magischen Protonenzahl sind alle Kerne kugelrund, wenn sie zudem noch eine gerade Zahl von Neutronen haben, weil Neutronenpaare auch noch recht reaktionsträge – inert – sind. Eine ungerade Neutronenzahl bringt eine Deformation mit sich, und der Rumpfkern reagiert durch die Kernwechselwirkung mit einer zusätzlichen Deformation auf das ungepaarte Neutron.
Der Deformation von Kernen widmete sich das Forschungsteam unter Beteiligung des . Ein Maß für diese Deformation ist das sogenannte Quadrupolmoment Q. Eine Verformung des Kerns in Richtung eines Rugbyballs bewirkt ein positives Q. Entwickelt sich die Form des Kerns mehr zu einer Art Frisbee, wird Q negativ. Je stärker die Abweichung von der Kugelgestalt ist, desto größer wird der Betrag des Quadrupolmomentes. Mit Q wächst auch der mittlere Kernradius an. Beide Größen können mit Lasern präzise vermessen werden. Dabei werden die Elektronen in der Atomhülle angeregt. Die genaue Wellenlänge (Farbe) des Laserlichtes, bei der dies geschieht, variiert minimal von Isotop zu Isotop. Wiederum ein winziger Teil dieser Variation ist auf die Änderung des Kernladungsradius bzw. auf das Quadrupolmoment des Kerns zurückzuführen. Die hohe Präzision von Lasermessungen erlaubt es, für jedes der Isotope diesen winzigen Beitrag zu ermitteln. Die Experimente an den teils sehr kurzlebigen Zinn-Isotopen wurden mit Hilfe des COLLAPS-Experiments an der Isotopenfabrik ISOLDE des CERN in Genf durchgeführt. COLLAPS ist seit nun genau 40 Jahren in Betrieb und – wie sich zeigte – immer noch für Überraschungen gut. Instituts für Kernphysik am Fachbereich Physik der TU Darmstadt
Die Forscherinnen und Forscher, , untersuchten bereits vor einigen Jahren mit der gleichen Methode entlang der Kette der Cadmiumisotope die Reaktion des Rumpfkerns auf das ungepaarte Neutron. Cadmium besitzt ein Protonenpaar weniger als Zinn und hat damit keine abgeschlossene Protonenschale, ist also nicht magisch. Folglich war die Reaktion des Rumpfkerns auf das ungepaarte Neutron stark und das Team beobachtete einen linearen Anstieg des Quadrupolmomentes von negativen zu positiven Werten, wie er bereits 1955 von Maria Goeppert-Meyer und ihrem Kollegen Hans Jensen theoretisch vorhergesagt wurde. die nun die Ergebnisse ihrer Arbeit an Zinn-Isotopen veröffentlicht haben
Bei den neuen Untersuchungen an Zinnisotopen stellten sich die Quadrupolmomente erwartungsgemäß als deutlich kleiner heraus als die in der Cadmiumkette, da die magische Protonenzahl die Kugelform noch stärker begünstigt. Überraschend war hingegen, dass der Verlauf von Q entlang der Isotopenkette nun mitnichten linear ist, sondern durch eine etwas komplexere Funktion beschrieben werden muss, die aber selbst Schülern in der Mittelstufe schon bekannt ist: Die Ergebnisse liegen fast perfekt auf einer quadratischen Funktion, einer Parabel.
Dieses Resultat vergleichen die Forscherinnen und Forscher in ihrer jüngsten Publikation in dem Journal „Communications Physics“ mit den Vorhersagen eines theoretischen Modells auf der Basis von effektiven Kernkräften, welches sich jüngst bei der Beschreibung von Ladungsradien ausgezeichnet hatte. Während das Modell den generellen Trend grob beschreiben kann, zeigen sich bei Details deutliche Abweichungen. Die Daten werden somit zu einem neuen Baustein zum tieferen Verständnis der Kernkräfte.
An dem unter anderem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt waren von deutscher Seite die TU Darmstadt sowie unter anderem das Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg, die Johannes Gutenberg-Universität Mainz und die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg beteiligt.