Weniger Stolpersteine

Forschung im Lauflabor

19.06.2020 von

Die menschliche Bewegung beim Stolpern ist vielfältig – und erstaunlich unverstanden. TU­Bewegungsforschern gelang eine fundierte Erkenntnis, die sogar Robotern helfen könnte, die Balance zu wahren.

Professor André Seyfarth, Dr. Maziar Sharbafi und Christian Schumacher (v. l. n. r.) bei der Anpassung eines Soft-Suit-Exoskelett- Protoyps.

Der Angular Momentum Perturbator (AMP) sieht aus wie ein Rucksack. Er wiegt 16 Kilogramm und im Inneren befindet sich ein schnell drehender gefesselter Kreisel, der an einem motorisierten Rahmen so aufgehängt ist, dass durch eine zusätzliche Rotation Drehmomente auf die Person übertragen werden, die den „Rucksack“ schultert. Der AMP hat eine einfache Funktion: Er bringt die Versuchsperson zum Beispiel durch Richtungsänderungen ins Schwanken. Diese muss die erzeugte Störung mit dem Körper wieder ausgleichen, um nicht hinzufallen. Für Forscher Christian Schumacher und seine Kollegen vom Lauflabor der TU Darmstadt ist dieser Moment die Gelegenheit, einen genauen Blick auf die Muskulatur zu werfen.

Schumacher hat dafür Studien im Rahmen eines Forschungsaufenthalts am Biorobotics Lab der Technischen Universität Delft (Niederlande), in dem der AMP entwickelt wurde, durchgeführt. Die dortigen Forschungsgruppen waren weltweit die ersten, die ein solches System einsetzten, um die Funktion sogenannter biartikulärer (zwei-gelenkiger) Beinmuskeln zu untersuchen. Die Teams konnten erstmals experimentell belegen, dass diese Muskeln am stärksten reagierten, wenn es darum ging, den Oberkörper zum Beispiel nach einem Stoß unter Kontrolle zu bekommen. Ein Verständnis dieser Prozesse hilft nicht nur, die gesamte menschliche Motorik besser zu begreifen und mögliche Beeinträchtigungen mit Technik auszugleichen. Es begünstigt auch die Entwicklung von Robotern, die sicherer und effizienter auf zwei Beinen gehen sollen – was nach wie vor eine immense Herausforderung für die Wissenschaft ist.

Dass die menschlichen Bewegungsmechanismen noch nicht vollständig verstanden sind, hat gute Gründe. „Die große Problematik in der Bewegungsforschung ist, dass der Körper so mannigfaltig ist“, sagt Schumacher. Wenn wir geschubst werden, stolpern oder auf einem unebenen Boden gehen, koordiniert unser Körper etwa eine Vielzahl von Muskeln, um die unsicheren Bewegungen wieder auszugleichen. Dabei stehen ihm immens viele Freiheitsgrade zur Verfügung – und damit viele Möglichkeiten, die Muskeln und Gelenke zu bewegen.

Eine Forschungshypothese ist, dass wir im Gehirn eine gewisse übergeordnete Repräsentation erzeugen. Die verarbeiteten Signale wandeln diese Entscheidungen in eine Art exakten Fahrplan für die einzelnen Muskeln um.

„Stellen Sie sich vor, Sie wollen ein Stift greifen, der vor Ihnen auf dem Tisch liegt“, sagt Schumacher. „Dann können Sie das in schier unendlich vielen Bewegungen ausführen.“ Die Mechanismen dabei sind verstanden: Zunächst entstehen neuronale Impulse im Gehirn, die im Rückenmark weiterverarbeitet und an die Muskulatur geleitet werden. Diese Impulse erzeugen die Kontraktionen der Muskeln und somit die Bewegung. Gleichzeitig kommen im Rückenmark sensorische Signale an, die zum Beispiel von den Hautrezeptoren in den Fingern ausgehen, etwa, sobald wir den Stift berühren und eine Gegenkraft spüren. Die Signale unterstützen die Kontrolle oder setzen wiederum neue Bewegungen in Gang.

Forschende können die Bewegungen zwar genau beobachten und etwa die neuronalen Signale der Muskulatur messen, aber diese lassen sich bislang nicht vorhersehen. „Das liegt zum Beispiel daran, dass Sie bei jeder Bewegung bestimmte Ziele haben, die die Art der Bewegung beeinflussen, zum Beispiel etwas effizient oder schnell machen zu wollen“, sagt Schumacher. So vielfältig wie die Beweggründe sind also auch die Bewegungen. Wenn Forschende somit nicht basierend auf Körperstrukturen und Hypothesen voraussagen können, wie eine Bewegung tatsächlich durchgeführt wird, ist es schwierig, die Rolle einzelner Muskeln im Gesamtkomplex zu erklären.

Ähnliches gilt auch für die Beinmuskulatur. Einer der Unterschiede zwischen Beinen und Armen ist, dass die Beinbewegung oft unbewusst stattfindet. Wer nach etwas greift, plant diese Bewegung, aber wer rennt und stolpert, muss sich stark auf seine Reflexe verlassen. Die Bewegung ist automatisiert. Das Rückenmark übernimmt sehr viel von der Kontrolle, in dem es sozusagen auf die eingehenden Signale unmittelbar reagiert und eine ganze Reihe von Muskeln gleichzeitig steuert. „Eine Forschungshypothese ist, dass wir im Gehirn eine gewisse übergeordnete Repräsentation erzeugen, zum Beispiel: Ich möchte unter diesen Zielen oder Randbedingungen von A nach B gehen“, erläutert Schumacher. „Die Signale, die im Rückenmark verarbeitet werden, wandeln diese Entscheidungen in eine Art exakten Fahrplan für die einzelnen Muskeln um, die dann wissen, was genau in welcher Weise wann zu tun ist.“

Variabilität als Vorteil

Obwohl dies im Gegensatz zum Stift-Greifen automatisiert abläuft, herrscht die gleiche Vielfalt. „Wir haben sowohl zwischen Personen eine hohe Variabilität wie auch in den Funktionen selbst“, sagt Schumacher. Der eine werde vielleicht das Knie etwas mehr beugen, der andere einzelne Muskeln mehr benutzen. Die Variabilität sei ein Vorteil, denn wenn durch eine Verletzung eine bestimmte Funktion ausfalle, hätten wir mit unter die Möglichkeit, eine andere zu nutzen – mit häufig fast identischem Ergebnis. Dies macht uns sozusagen überlebensfähiger.

Um nun die Rolle der zwei-gelenkigen Muskeln zu untersuchen, teilten Schumacher und seine Kollegen Bewegungen in drei Grundfunktionen ein: die Standbein-Funktion, die Schwungbeinkontrolle und die Oberkörperbalance. Die Unterteilung in klar unterscheidbare Funktionen ermöglichte es, die unterschiedlichen funktionellen Beiträge der zwei-gelenkigen Muskeln zu erkennen. Die Wissenschaftler konnten unter anderem belegen, dass diese Muskeln, wie in der Theorie bereits vermutet, bei der Standbeinkontrolle sehr aktiv waren. Wenn es darum geht, sich vom Boden abzudrücken, ersparen sie uns Energie, weil sie diese vom einem Gelenk auf das andere übertragen können. Das führt da zu, dass wir uns effizienter fortbewegen, aber auch mehr Kraft zum Beispiel beim Hüpfen haben.

Nun geht es darum, die Erkenntnisse in der Robotik abzubilden. Bei Laufrobotern sollen zwei-gelenkige Aktoren – das Äquivalent von Muskeln – Ähnliches bewirken und den Abdruck sowie die Balance unterstützen, aber auch dabei helfen, das Schwungbein besser zu kontrollieren.

Zudem ist die biologische Energieeffizienz relevant im Bereich der Prothetik. Die meisten Prothesen sind heute immer noch passiv. Deshalb verbrauchen Prothesenträger beim Gehen bis zu 60 Prozent mehr Energie als Menschen ohne Prothesen. Systeme mit eigenem Antrieb, die Menschen beim Gehen aktiv unterstützen, benötigen jedoch eine gewisse Batteriekapazität – ihr deshalb höheres Gewicht ist für Träger allerdings unangenehm. Die Mechanismen der zwei-gelenkigen Muskeln können helfen, mit weniger Energie mehr zu bewirken.

Nicht zuletzt profitieren Exoskelette von diesen Ergebnissen. Die haben sich in den letzten Jahren erheblich weiterentwickelt. Waren es einst schwerfällige mechanische Gerüste, so gibt es inzwischen Soft-Suit-Exoskelette – textilbasierte Systeme, die über Kabelzüge Kräfte übertragen. Sie unterstützen Menschen mit Bewegungsbeeinträchtigungen zum Beispiel beim Abdrücken oder Vorschieben des Beines. Die TU-Gruppe konnte bereits zeigen, dass Menschen mit Exoskeletten, die die Mechanismen von zwei-gelenkigen Muskeln berücksichtigen, effizienter gehen können.

Veröffentlichungen

Review Paper über Simulationsmodelle, experimentelle Studien und robo-tische Systeme mit zweigelenkigen Muskeln: Schumacher, C., Sharbafi, M., Seyfarth, A., & Rode, C. (2020). Biarticular muscles in light of templa-te models, experiments and robotics: a review. Journal of the Royal Soci-ety Interface, 17(163), 20180413. https://doi.org/10.1098/rsif.2018.0413

Störexperiment mit dem AMP (in Zusammenarbeit mit der TU Delft) Schumacher, C., Berry, A., Lemus, D., Rode, C., Seyfarth, A., & Vallery, H. (2019). Biarticular muscles are most responsive to upper-body pitch perturbations in human standing. Scientific reports, 9(1), 1-14. https://doi.org/10.1038/s41598-019-50995-3

Weitere aktuelle Forschungsthemen aus der TU Darmstadt: