Im Westen viel Neues

Für den Magdeburger Gunnar Daehne waren Mauerfall und Wiedervereinigung der Start in ein ganz anderes akademisches und privates Leben

21.10.2020 von

Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Gunnar Daehne, Student in Magdeburg, packte kurz darauf seine Koffer. 14 Tage später war er in Darmstadt und bewarb sich um einen Studienplatz in Elektro- und Informationstechnik an der TU. Der damals 21-jährige wollte unbedingt in den Westen. Heute, mit 52 Jahren, ist sich der Coach und Berater für Projekt Management sicher: „Ich habe meine Chance genutzt.“

Gunnar Daehne bei seiner Tätigkeit als Coach und Berater.

Probleme mit der Stasi

Für Gunnar Daehne waren die ersten 40 Jahre seines Lebens vorgezeichnet. Er hatte eine Ausbildung absolviert, die ihm Abitur und den Abschluss als Maschinenbauer einbrachte. Der Magdeburger wollte studieren, doch das war eigentlich nicht vorgesehen. „Die Stasi war bei mir zuhause aufgetaucht“, erzählt er. Sie wollten Gunnar anwerben. Während eines Urlaubs in Ungarn hatte er sich mit einem niederländischen Jugendlichen angefreundet, mit dem er jahrelang eine Brieffreundschaft aufrechthielt. „Die Stasi hatte alle diese Briefe gelesen und wollte diesen Kontakt ausnutzen.“ Er lehnte ab. „Darauf hieß es: Dann werden Sie in der DDR nicht studieren.“ Dass er trotzdem durch die Maschen schlüpfte und 1989 ein Elektrotechnik-Studium in Magdeburg begann, erklärt sich Gunnar nur so, „dass der Staat zu dieser Zeit eigentlich schon im Zerfall war“.

Angst, dass die Grenzen wieder abgeriegelt werden könnten

Als der Mauerfall im November kam, setzten Gunnar Daehne und seine Familie um, was ohnehin schon lange geplant war: „Wir gehen in den Westen. Und zwar sofort. Wir hatten Angst, dass die Russen die Grenzen wieder abriegeln könnten“, erinnert er sich. Auch die Eltern, der Vater hatte Mathematik, die Mutter Bibliothekswissenschaft studiert, waren Repressalien ausgesetzt. Die Familie packte ihre Koffer, zog zunächst zu Verwandten in Hessen. Ein Cousin studierte bereits an der TU Darmstadt. Die Universität hatte einen guten Ruf, „da wollte ich auch hin“, erinnert sich Gunnar Daehne. Er ließ sein Abitur anerkennen und trat 1990, ein Jahr später, seinen Studienplatz an. „Ich musste zunächst warten, in Magdeburg hatte ich mein Studium ja mitten im Semester abgebrochen.“ Bis dahin arbeitete er als Facharbeiter in einer Elektronikfirma und später während seines gesamten Studiums, verdiente er sich seinen Unterhalt mit einem Job bei einer Computerschule in Darmstadt. Die Familie war nahezu mittellos im Westen angekommen. „Ich musste nebenher arbeiten“, sagt der TU-Alumnus.

Riesige Umstellung

Der so lang ersehnte Westen, das Studium an einer BRD-Uni bedeuteten eine riesige Umstellung. „Im Osten war alles vorbestimmt, verschult und mit Anwesenheitskontrollen versehen, was eher einer Fachhochschule ähnelte. Hier war alles frei. Ich musste mir die Kurse und alles selbst zusammensuchen, mich motivieren. In Darmstadt konnte ich plötzlich machen, was ich wollte.“ In Magdeburg waren die Studiengruppen klein, an der TU saßen rund 800 Studenten*innen im Hörsaal für Elektro- und Informationstechnik. Das war anfangs nicht einfach, „aber ich habe mich schnell ins Studium eingelebt“. Gunnar Daehne war 22 und fest entschlossen, das völlig neue Leben zu nutzen.

Gnadenlos gesiebt

Das Studium, ist er überzeugt, war vor 30 Jahren an der TU Darmstadt hart. „Man bekam nichts geschenkt. Für Klausuren habe ich wochenlang und die ganzen Ferien durch gebüffelt.“ Im Fach Hochfrequenz-Technik fielen im Hauptstudium damals 17 von 21 Studierenden durch. „Ich hatte bestanden, aber gerade mal mit der Note ausreichend.“ Mathematik und Physik, erinnert sich Daehne, „waren schwer. Mein Einser-Abitur aus der DDR konnte ich hier vergessen. Ich rutschte auf eine 3 ab.“ Von den rund 800, die das Studium begonnen hatten, bleiben zum Schluss geschätzt 200 übrig. „Es wurde knallhart gesiebt. Das Audimax wurde immer leerer“. Gunnar Daehne war von Kind an dazu erzogen, „Leistung zu bringen“, sagt er. Er biss sich durch. Nach elf Semestern schloss er sein Studium an der TU erfolgreich mit der Note 2 ab „und ich habe nebenher noch wöchentlich mehrere Stunden in der Computerschule gearbeitet“.

Der beste Studienfreund kam aus den USA

Es gibt nur wenige Dinge, die er im Nachhinein bedauert – zum Beispiel, dass er kein Semester oder Praktikum im Ausland verbracht hat. „Dafür hat einfach die finanzielle Rückendeckung gefehlt“, sagt er jedoch. Diese internationale Erfahrung während des Studiums vermisst er. Später hat er sie teilweise nachgeholt. Doch gleich im ersten Semester lernte Gunnar seinen Studienfreund Amin kennen, ein Austauschstudent aus den USA. Mit Amin und weiteren Austauschstudierenden fuhr Gunnar zur Wiedervereinigungs-Feier 1990 nach Berlin. Frei durch das Brandenburger Tor zu gehen, das war nach seinem früheren Leben in der DDR ein unglaubliches Erlebnis. „Es herrschte eine wahnsinnige Aufbruchstimmung“, sagt der Alumnus.

Später engagierte er sich jahrelang im Studentenverband des AIESEC, einer internationale Austauschorganisation, die Praktika und Freiwilligenprojekte für junge Menschen im Ausland vermittelt.

Sein amerikanischer Freund Amin interessierte sich sehr für Gunnars DDR-Vita. Der Amerikaner blieb ein Gastsemester in Darmstadt. Die Freundschaft von Daehne und Amin dauerte während des Studiums an und es entwickelte sich auch ein Kontakt, der bis heute nicht abgerissen ist. Mehrfach besuchte der TU-Alumnus ihn in San Francisco und Chicago. Mal die Vereinigten Staaten bereisen, das war ein Jugendtraum gewesen.

Berufliche Karriere abseits der E-Technik

Beruflich ging der 52-Jährige, der in Darmstadt wohnt und Vater zweier Söhne ist, nach dem Studium Wege jenseits des erworbenen Studienabschlusses. Sind Ingenieure*innen heute begehrte Fachkräfte, stellte sich die Situation Mitte der 1990er anders dar. Stellen waren eher rar. Stattdessen war die IT-Branche eine junge und aufstrebende Industrie und Gunnar Daehne durch seine jahrelange Arbeit in der Computerschule geschult. Im Studium hatte er zudem Datentechnik belegt. „Ich wusste, wie Computer funktionieren und zu lernen, wie Netzwerke aufgebaut sind, war nicht schwer.“ Als Consultant für Computernetzwerke bekam er bei der Firma EDC eine Festanstellung, arbeitete als externer Berater und technischer Projektmanager für große Firmen wie etwa die Hoechst AG. 1999 machte sich der Darmstädter selbstständig mit einer Beratungsfirma für Projektmanagement. So leitete er beispielsweise Logistikprojekte für „Coca-Cola“, arbeitete in IT-Projekten für große Banken, die Chemie- oder Autoindustrie.

Gut durch die Corona-Krise

Als Coach und Berater arbeitet er bis heute in internationalen Projekten auch für Osteuropa. Gunnar spricht rudimentär Russisch, obgleich die Projektsprache meistens Englisch ist. Seine DDR-Vita kommt ihm hier zugute. Seit ein paar Jahren reist er jedoch nicht mehr so häufig durch die Welt, sondern arbeitet vermehrt aus Deutschland in internationalen Projekten. Ein Trend, den die Pandemie noch verstärkt hat. „Berater müssen nicht ständig vor Ort sein“, sagt er. Bei Schulungen, die der TU-Alumnus auch anbietet, ist das natürlich anders, doch auch hier nimmt in Covid-19-Zeiten der Trend zu virtuellen Angeboten, Videos und Self-Learning zu. „Bisher bin ich gut durch die Corona-Krise gekommen“, sagt er.

Gunnar Daehnes Bilanz nach 30 Jahren Wiedervereinigung: „Die Ausreise und der Umzug nach Darmstadt waren der einzig richtige Schritt für mich. Ich bin hier meinen Weg gegangen, habe meine Chance genutzt und fühle mich heimisch.“