Unterwegs als Essenskurier

Darmstädter Soziologe erforscht die Welt der Plattformarbeitenden

16.11.2020 von

Plattformarbeit zieht ein in immer mehr Branchen. Heiner Heiland, Arbeitssoziologe an der TU Darmstadt, hat für seine Promotion den Foodtech-Sektor unter die Lupe genommen und im Rahmen seiner Forschungen unter anderem als Fahrradkurier gearbeitet. Seine Studien geben Einblick in eine prekäre Arbeitswelt, in der Menschen über Apps gesteuert werden, aber mit Hilfe digitaler Technologien zuweilen auch Freiräume erobern für Solidarisierung und Widerstand.

„Rider“ im Dienst von Plattformunternehmen sind ein gewohnter Anblick in Städten.

Berlin, Frankfurt, Köln, München und Darmstadt: 2018 war ein bewegtes Jahr für Heiner Heiland. Im Auftrag von zwei so genannten food delivery tech companies ist der 32jährige regelmäßig in die Pedale getreten und eingetaucht in die Welt der Plattformarbeitenden. „Ich habe viele Pizzen ausgefahren, in vielen Städten, bei Wind und Wetter und zu ganz unterschiedlichen Zeiten“, berichtet der Soziologe. Dabei war der Wissenschaftler in zwei Rollen unterwegs. Als „teilnehmender Beobachter“ hat er andere „Rider“ begleitet, sich die Arbeitsorganisation und -prozesse angeschaut und Interviews geführt. Als „beobachtender Teilnehmer“ hat er selbst bei den Plattformen angeheuert und als Teil der Community sogar an deutschlandweiten Protesttreffen teilgenommen.

Die in der Arbeitssoziologie seit langem etablierte Methode, die hier zur Anwendung kommt, heißt Ethnographie. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen schlüpfen in die Rolle von Beschäftigten und betreiben Forschung aus dem Herzen des Betriebes. Für Heiland lieferte diese besondere Form der Feldstudie neben Interviews und Online-Befragungen Material, das auf unmittelbarem Erleben und Erfahrungswissen basiert. „Es kommt immer auf die richtige Kombination der Methoden an, aber in diesem Fall hat die ethnographische Forschung eine deutlich detailliertere Analyse ermöglicht“, betont er.

Es entstehen neue Kontrollmöglichkeiten, die ohne die Digitalisierung nicht möglich wären. Aber das muss nicht immer ein Nullsummenspiel sein.

Heiland stieß auf einen wachsenden Dienstleistungsbereich mit für die Plattformökonomie typischen unstrukturierten und unregulierten Arbeitsbeziehungen, Plattformbetreiber und „Rider“, die entweder als Angestellte weisungsgebunden sind, meistens aber als Freelancer agieren, handeln Macht und Ressourcen auf unterschiedlichen mikropolitischen Ebenen aus. „Es entstehen neue Kontrollmöglichkeiten, die ohne die Digitalisierung nicht möglich wären. Aber das muss nicht immer ein Nullsummenspiel sein.“ Seine Analyse zeigt wie sich beide Parteien die neuen Technologien zunutze machen.

Kein Spielraum für individuelle Absprachen

Weil ein Plattformunternehmen zum Beispiel keine Betriebsstätte hat, entstehen Sozialbeziehungen ausschließlich unter den Auftragnehmern, die sich in Chaträumen vernetzen, solidarisieren und hierüber auch mobilisieren. Obwohl ihre Auftraggeber sie engmaschig tracken können sich die Essenskuriere dem Kontrollsystem auch entziehen, etwa mit Hilfe einer App, die ihre GPS-Spuren verwischt. Spielraum für individuelle Absprachen mit dem Auftrag- oder Arbeitgeber gibt es jedoch kaum. Die Plattformarbeitenden kommunizieren fast ausschließlich mit der Plattform-App. „Sie kann nur zwischen A und B unterscheiden. Regeln individuell auszulegen ist in einem solchen System nicht möglich“, beobachtet Heiland. So entscheidet zum Beispiel der Algorithmus auf Basis der individuellen Leistung auch wer zu Wochenbeginn als erstes seinen Arbeitsslot wählen darf.

„Spaß hat es mir schon gemacht“, sagt der Soziologe heute, aber er räumt auch sofort ein, dass dies nur die „Rider“ so sehen, deren Existenz nicht von diesem Job abhängt. Die anderen müssten die vorherrschenden Arbeitsbedingungen hinnehmen. Interessensvertretung sei auf dem Plattformarbeitsmarkt eine Seltenheit und von den Unternehmen auch nicht gewollt. Die Algorithmus-gesteuerte Organisation von Arbeit werde sich auch in anderen Bereichen weiter ausbreiten – für Heiland ein weiterer Schritt in Richtung Prekarisierung. „Die Aufgabe ist es jetzt, Plattformarbeit über Mitbestimmung, soziale Absicherung und Regulierung nachhaltig zu gestalten“.

Heiner Heiland unterzog die beiden „food delivery tech companies“ Foodora und Deliveroo einer vergleichenden Analyse. Hierbei standen vier mikropolitische Spielfelder im Fokus: Raum, Umwelt, Informationen und Kommunikation. Der Analyse zugrunde liegen 500 Stunden eigene Kurierarbeit in fünf deutschen Städten, 35 Interviews mit „Ridern“ aus sieben deutschen Städten und eine quantitative Online-Befragung mit 252 Teilnehmenden. Experten schätzen die Zahl der Plattform-Essenskuriere in Deutschland auf 2.500 bis 5.000. 2019 belief sich der prospektive Umsatz hierzulande auf 1,8 Milliarden € und stieg damit gegenüber 2018 um 14 %. Deliveroo hat den deutschen Markt inzwischen verlassen, Foodora wurde von Lieferando aufgekauft. Erste Ergebnisse aus dem Promotionsprojekt:

Liefern am Limit. Wie die Plattformökonomie die Arbeitsbeziehungen verändert

Digitale Atomisierung oder neue Arbeitskämpfe? Widerständige Solidaritätskulturen in der plattformvermittelten Kurierarbeit

Plattformarbeit im Fokus. Ergebnisse einer explorativen Online-Umfrage zu plattformvermittelter Kurierarbeit