Vorhersage von Nobelpreisträgern bestätigt

TU-Physiker weisen Atomkerne mit ungewöhnlicher Symmetrie nach

05.01.2021 von

Physiker um Professor Norbert Pietralla vom Institut für Kernphysik der Technischen Universität Darmstadt haben eine Methode entwickelt, mit der sich die Zustände von Atomkernen sehr präzise unterscheiden lassen. Dabei machten sie eine spektakuläre Entdeckung.

V.l.n.r.: Tobias Beck und Dr. Volker Werner

In der Wissenschaft eilt die Vorhersage der Entdeckung manchmal um Jahrzehnte voraus. Umso mehr freuen sich nun Darmstädter Physiker, dass sie Atomkerne mit ungewöhnlicher Symmetrie nachweisen konnten, wie sie von den Nobelpreisträgern Aage Bohr und Ben Mottelson vor 45 Jahren postuliert worden waren. „Solche Atomkerne sind äußerst schwer zu beobachten“, sagt Tobias Beck vom Institut für Kernphysik der Technischen Universität Darmstadt. Dem Team um Norbert Pietralla gelang dies nun durch neue Analyse­ und Messmethoden, die den Zerfall angeregter Kernzustände äußerst präzise kartieren. Die Forscher stützten sich dabei auf ein Experiment unter Leitung von Dr. Volker Werner, ebenfalls ein Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Pietralla. Das Land Hessen unterstützte das Projekt im Rahmen des aus dem LOEWE-Programm geförderten Forschungsschwerpunkt „Nukleare Photonik“. Unterstützung kam von Teams aus den USA, Russland, Großbritannien und Rumänien, finanzielle Hilfe vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Aber auch Glück half den Forschenden.

Atomkerne sind nützlich, beispielsweise in der medizinischen Bildgebung bei der Kernresonanztomographie. In der Kernphysik weiß man bereits sehr viel über sie. Doch die winzigen Teilchen geben immer noch Rätsel auf. Eines davon ist die Frage, welche räumlichen Gestalten Atomkerne annehmen können. Laien stellen sie sich oft als Kugeln vor. Doch die meisten Kerne weichen von dieser Form ab. Zum Beispiel kann die Kugel entlang einer Achse gezerrt sein, sodass eine Art Zigarre entsteht, somit ein weniger symmetrisches Gebilde.

Die Symmetrie ändert das Verhalten von Kernen

Als atomare Bestandteile gehorchen Kerne der Quantenmechanik. Diese verbietet es kugelförmigen Objekten, sich zu drehen, weil dadurch kein neuer, unterscheidbarer Zustand entstünde. Ein zigarrenförmiger Kern hingegen kann zwar nicht um seine Längsachse rotieren – weil ihn das nicht verändern würde. Um eine Achse jedoch, die senkrecht zur Längsrichtung steht, kann sich die „Zigarre“ sehr wohl drehen. Doch auch dabei kann ein Mehr oder Weniger an Symmetrie sichtbar werden. Die Quantenmechanik beschreibt Objekte durch eine mathematische Funktion, die so genannte Wellenfunktion. Diese kann an verschiedenen Orten positiv oder auch negativ sein. Stellt man sich das Vorzeichen der Wellenfunktion eines Kerns als Rot­ (positiv) und Blau­färbung (negativ) vor, so kann es vorkommen, dass die „Zigarre“ bei einer Drehung um 180 Grad ihr „Vorzeichen“ ändert. Dabei tauschen Rot und Blau die Seiten. Erst durch eine weitere Drehung um dann insgesamt 360 Grad ist der Ausgangszustand wiederhergestellt. Es kann aber auch sein, dass beide Seiten blau sind (oder rot). Dann reichen 180 Grad, um Deckungsgleichheit zu erreichen. Der Fachjargon für diese beiden Fälle heißt R-Symmetrie. Sie werden durch die Werte +1 (identisch zum Ausgangszustand nach 180 Grad­Drehung) und –1 (eine Drehung um 360 Grad ist nötig) unterschieden.

Nicht nur bezüglich Drehungen kann ein Atomkern symmetrisch sein, sondern auch im Hinblick auf die Spiegelung an seinem Mittelpunkt. Grob gesagt wird dabei ein Punkt links unten nach rechts oben gespiegelt, oder umgekehrt. Diese Art der Symmetrie nennt die Physik „Parität“. Auch davon gibt es zwei Arten, die mit +1 und –1 bezeichnet werden.

Schwer zu beobachten

Kernzustände, bei denen R-Symmetrie und Parität das gleiche Vorzeichen haben, sind gut untersucht. „Informationen über Zustände mit unterschiedlichen Vorzeichen aber fehlten“, sagt Tobias Beck. Die Nobelpreisträger Bohr und Mottelson haben ihre Existenz zwar vorhergesagt, ihre direkte Beobachtung ist jedoch sehr schwer. Um einen rotierenden Kernzustand zu detektieren, muss man dem Kern Energie zuführen, etwa in Form von Gammastrahlung. Dann werden verschiedene Kernzustände energetisch angeregt. Bei der Rückkehr in den Grundzustand des Kerns sendet jeder davon eine charakteristische Signatur an Gammastrahlen verschiedener Energie aus. Dass spezielle Formen von Kernen schwer zu detektieren sind, liegt daran, dass sie im Vergleich zu anderen nur selten angeregt werden.

"Wir hatten bei der Untersuchung von Dysprosium-Atomkernen aber das Glück, dass beim Isotop 164Dy eine ungewöhnlich günstige Situation vorliegt“, sagt Beck. Bei diesem Isotop mischen sich Zustände mit unterschiedlichen Werten der R-Symmetrie. Das wäre so, als wenn eine Zigarre mit einer roten und einer blauen Hälfte auch auf der roten Hälfte eine blaue Spitze hätte. Eine solche Situation „erbt“ von dem symmetrischen Anteil (zwei blaue Spitzen) deren hohe Wahrscheinlichkeit durch Gammastrahlen angeregt zu werden. „Dadurch sind sie etwas leichter zu beobachten“, sagt Beck.

Manipulation von Kernzuständen

Dies gelang dem Darmstädter Team dank einer sehr präzisen Messmethode, die es an der High Intensity Gamma Ray Source der Duke University in Durham, US-Staat North Carolina, entwickelt hat. Sie erzeugt Gammastrahlung, die einzelne Kernzustände gezielt anregt. Dieser präzisen Manipulation von Kernzuständen widmet sich das Forschungsfeld „Nukleare Photonik“, das in Darmstadt in weltweit führender Weise mitentwickelt wird. Somit konnten die TU-Wissenschaftler jene gemischten Zustände anregen, die den gesuchten Quantenzustand mit positiver Parität und negativer R-Symmetrie enthalten sollten.

„Das macht verständlich, dass ein derartiger Quantenzustand zuvor noch nie beobachtet worden ist“, so Tobias Beck.

Ihr Modell sagte voraus, dass der bislang unbeobachtete Zustand seine Anregungsenergie mittels Gammastrahlung zweier verschiedener Energien wieder abgibt, wobei die eine doppelt so intensiv ist wie die andere. Bei dem bekannten Zustand mit gleichen Vorzeichen von Parität und R-Symmetrie hingegen ist das Verhältnis der beiden Intensitäten umgekehrt. Im Experiment bestimmten die Forschenden das Verhältnis der beiden Strahlungsarten. Sie fanden, dass eine Mischung aus beiden Intensitätsverhältnissen vorliegt. Der Beitrag des gesuchten Zustands mit unterschiedlichen Vorzeichen von Parität und R-Symmetrie erwies sich als 125-Mal schwächer als der des zuvor schon bekannten Zustands. „Das macht verständlich, dass ein derartiger Quantenzustand zuvor noch nie beobachtet worden ist“, sagt Beck.

„In Zukunft wollen wir gezielt weitere Atomkerne untersuchen, bei denen wir Abweichungen im Zerfallsverhalten erwarten“, ergänzt der Physiker. Dabei hofft er vor allem auf die Inbetriebnahme des „Variable Energy Gamma-ray System“ an der von Darmstädter Kernphysikern maßgeblich mitgestalteten europäischen „Extreme Light Infrastructure – Nuclear Physics“ im rumänischen Bukarest, die für das Jahr 2022 geplant ist. Die Energie kann dort noch präziser auf ein schmales Frequenzband fokussiert werden. Tobias Beck freut sich darauf: „Das wird unsere Forschung in der nuklearen Photonik und ihre wissenschaftlichen und technischen Anwendungen auf ein neues Level heben.“

Publikationen

T. Beck et al.: ΔK =0 M1 Excitation Strength of the Well-Deformed Nucleus 164Dy from K Mixing, Physical Review Letters 125, 092501 (2020).

Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz (LOEWE): Schwerpunkt „Nuclear Photonics“ an der TU Darmstadt.