Winckelmanns Exzerpte

Neues BMBF-Projekt untersucht Abschriften des bekannten Kunsthistorikers

28.05.2021

Johann Joachim Winckelmann gilt als Begründer der wissenschaftlichen Kunstgeschichte und der Archäologie im deutschsprachigen Raum. In einem großen Forschungsprojekt untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) und der TU Darmstadt nun die Einflüsse anderer Gelehrter auf sein Werk. Grundlage bildeten für Winckelmann insbesondere die Schriften italienischer, französischer und englischer Gelehrter, die er in Auszügen abschrieb und damit sogenannte Exzerpthefte füllte. Das Bundeministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert das Projekt für drei Jahre mit knapp 1,1 Millionen Euro.

Eine Seite aus den Exzerptheften von Johann Joachim Winckelmann
Eine Seite aus den Exzerptheften von Johann Joachim Winckelmann

Exzerpte waren viele Jahrhunderte lang die gängigste Methode, um Wissen zu „speichern“. Auszüge aus den Werken anderer Autoren wurden abgeschrieben, dienten als Erinnerungshilfe für Gelesenes, aber auch als Reservoir für eigene Werke. „Exzerpte waren bis ins 19. Jahrhundert für alle Wissenschaftler sehr wichtig. In der Forschung finden sie heute bislang jedoch noch wenig Beachtung“, so die Germanistin Professorin Dr. Elisabeth Décultot, Humboldt-Professorin und Direktorin des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) an der MLU.

Sie leitet das neue Projekt zu den Exzerptheften Johann Joachim Winckelmanns (1717–1768) gemeinsam mit Professor Dr. Paul Molitor vom Institut für Informatik der MLU und Professorin Dr. Andrea Rapp vom Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften der TU Darmstadt. In einer großen Digitaledition sollen die Exzerpthefte zusammen mit den Originalwerken, aus denen Winckelmann diese abgeschrieben hatte, und entsprechenden Textstellen in seinen eigenen Werken veröffentlicht und mit entsprechenden Querverweisen versehen werden.

„Das Projekt soll als Pilotprojekt zur Erforschung solcher Exzerpte dienen“, so Décultot. Während sie ihre Expertise zu Winckelmanns Werken einbringt, steuern die Projektpartner ihre Erfahrung im Bereich der Digital Humanities bei. Molitor betreut die technische Seite des Projekts, die Philologin Rapp bringt ihre Expertise bei der digitalen Textanalyse ein. Die Digitaledition soll im Open-Access-Verfahren für weitere Forschung zur freien Verfügung gestellt werden.

Computerphilologie der TU als Schnittstelle

„Die Computerphilologie an der TU Darmstadt bildet die Schnittstelle zwischen der Philologie, der Informatik und den potenziellen Nutzenden des Exzerpt-Portals“, erklärt Professorin Andrea Rapp. Daher werden an der TU vor allem zwei Arbeitsbereiche betreut: erstens die teilautomatische Texterfassung und digitale Aufbereitung der Exzerpte Winckelmanns sowie weiterer (multilingualer) Quellen. Sie bilden zum einen die Grundlage für die Editionsarbeiten der Philologinnen und Philologen. Zum anderen werden geeignete möglichst zeitgenössische, qualitätsgesicherte Referenzkorpora in verschiedenen ausgewählten Sprachen aufbereitet, um den Informatikerinnen und Informatikern das Referenzmaterial für die Entwicklung der multilingualen Suchen zu bieten.

Die Computerphilologie an der TU Darmstadt bildet die Schnittstelle zwischen der Philologie, der Informatik und den potenziellen Nutzenden des Exzerpt-Portals.

Zweitens richtet sich das Interesse auf die spezifische Humanist-Computer-Interaction, mit dem Ziel, wissenschaftliche Innovationen in der interdisziplinären Zusammenarbeit zu stimulieren. „Dabei werden unterschiedliche Perspektiven eingenommen: die Produktions-Perspektive von Nutzenden, die die Quellen- und Referenzkorpora erstellen, annotieren und analysieren einerseits und die Rezeptions-Perspektive der Nutzenden, die weitere, eigene Forschungsfragen an das Exzerpt-Portal richten, andererseits“, so Rapp.

Verbindung der Texte

Durch die Verbindung der verschiedenen Texte will das Team unter anderem den Umgang Winckelmanns mit fremden Texten erforschen. „Es gibt in seinen Werken viele Fälle von dem, was man heute Plagiat nennen würde“, so die Germanistin. Der Vergleich mit den Exzerptheften soll helfen, herauszufinden, an welchen Stellen er Textteile mit oder ohne Nennung der Autorschaft verwendet.

Bevor die Werke digital verglichen werden können, müssen sie jedoch vollständig erschlossen werden. „Die Exzerpthefte umfassen circa 7.500 Seiten, zu einem Großteil aus Werken fremdsprachiger Autoren“, sagt Décultot. Diese liegen zu einem Großteil bereits digital in Form von Scans vor und müssen nun in Textform erfasst und teils übersetzt werden. „Winckelmann hat eine Vielzahl kunsthistorischer Begriffe im Deutschen geprägt, indem er französische oder italienische Wörter als Grundlage nutzte“, so die Wissenschaftlerin. Mithilfe der computergestützten Analyse hofft Décultot, weitere bisher noch nicht aufgedeckte Verbindungen zwischen Winckelmanns Quellen und seinen eigenen Werken zu finden.

Winckelmann wurde 1717 in Stendal geboren und studierte für vier Semester an der Universität Halle und später in Jena. Danach arbeitete er als Hauslehrer und Bibliothekar, bevor er schließlich nach Italien reiste und in Rom zum „Aufseher aller Altertümer im Kirchenstaat“ ernannt wurde. Er gilt als Begründer der modernen Kunstgeschichte und Archäologie.

MLU/Rapp