Den richtigen Ton treffen

Neue Akustiklabore der TU Darmstadt

15.06.2021 von

Wie kann man akustische Herausforderungen so meistern, dass Menschen und Umwelt einerseits von Lärm entlastet werden und gleichzeitig je nach Situation eine gewünschte Geräusch-Kulisse entsteht? Forschende der TU Darmstadt arbeiten an neuen Methoden und Verfahren, mit denen sie bei der Entwicklung von Maschinen akustische Eigenschaften von Anfang an mitgestalten können. Drei neue Akustiklabore bieten ihnen hierfür eine Top-Infrastruktur.

„Das Labor ist ein echter Sprung für die Akustikforschung in der Rhein-Main-Region“, erklärt Tobias Melz, Professor für Systemzuverlässigkeit, Adaptronik und Maschinenakustik (SAM) an der TU Darmstadt und Leiter des Fraunhofer-Instituts für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit (LBF). Künftig laufen auf dem TU-Campus Lichtwiese experimentelle Analysen an einzelnen Komponenten und kompletten Maschinen bis hin zu Fahrzeugen. Forschende der TU Darmstadt wollen in Kooperation mit Partnern aus Industrie und Forschung neue Verfahren und Methoden entwickeln, mit denen sie die Entstehungs- und Ausbreitungsmechanismen des Schalls besser verstehen und die Akustik einer Maschine zielgerichtet und am Bedarf der Kunden orientiert gestalten können.

Was das für die Praxis bedeutet, zeigt das Beispiel Automobilindustrie. Es ist herausfordernd, akustische Eigenschaften im Vorfeld hinreichend genau zu designen. Oft entstehen diese erst im Produktentstehungsprozess. Ist der Produkt-Prototyp dann fertig und es treten störende Geräusche auf, fallen Nachbesserungen an – das kostet Zeit und Geld. Gleichzeitig ist ein markenspezifisches Akustikerlebnis, das den Fahrenden vertraut ist, durchaus erwünscht und auch kaufentscheidend – der Klassiker ist das assoziativ aufgeladene dumpfe Geräusch, wenn die Tür eines Autos der Oberklasse geschlossen wird. Gefragt sind also Lösungen, die beides – die Vermeidung lästiger und die Erzeugung gewünschter Geräusche – von Beginn an sicherstellen. „Deswegen bauen wir auf eine möglichst frühe akustikgerechte Gestaltung, die am besten direkt an der Schallquelle ansetzt“, berichtet Christian Adams, Wissenschaftler am Fachgebiet SAM der TU Darmstadt.

Will man die Geräusche beeinflussen, sind drei physikalische Größen wichtig: Masse, Steifigkeit und Dämpfung. „Um Fahrzeugteile mit Blick auf diese Größen richtig auslegen zu können, brauchen wir einen vielseitigen Methodenkoffer“, sagt Adams. Denn nicht nur die Strukturen im Fahrzeug müssen richtig designt werden, sondern alle wichtigen Wechselwirkungen sind zu berücksichtigen, die mit dem Material oder der Fertigungsweise zusammenhängen. Relevant wird dies zum Beispiel beim Thema Elektromobilität. Ein Elektromotor ist anders als ein Verbrenner nicht nur zu leise, um unerwünschte Geräusche zu kaschieren. E-Fahrzeuge müssen mit Blick auf die Reichweite auch möglichst leicht sein. Leichtbau und akustikgerechte, schwingungsarme Lösungen stehen aber typisch im Widerspruch zueinander. „Das gilt es zu verstehen und frühzeitig zu antizipieren“, sagt Melz.

Validierte Simulationsmethoden zur Gestaltung akustischer Produkteigenschaften werden dringend gebraucht und müssen entwickelt werden, um beispielsweise den Komfort von Elektrofahrzeugen auf Kundenbedarfe einzustellen. Hier arbeiten wir immer enger mit dem Fachgebiet zusammen. (Dr. Sven Herold, Bereichsleiter Adaptronik am Fraunhofer LBF)

Es braucht also innovative Methoden und Verfahren für ein vorausschauendes „akustikgerechtes Gestalten“. Die neuen Akustiklabore machen es möglich, sie unter klar definierten Rahmenbedingungen weiterzuentwickeln und zu validieren. „Wir arbeiten hier in einem völlig störentkoppelten Bereich, das heißt wir fokussieren auf die Geräusche, die wir für ein bestimmtes Experiment brauchen und blenden alle anderen aus“, berichtet Adams.

Im ersten Schritt betrachten die Forschenden den Körperschall. Wenn ein Auto gestartet wird, setzt der Motor Schwingungen frei, deren Energie sich in der Struktur des Fahrzeugs als Körperschall ausbreitet. An der Strukturoberfläche wird der Körperschall des Motors zum Beispiel als Luftschall in das Innere des Fahrzeugs abgestrahlt; der Insasse nimmt dies wahr. Die Kunst ist es zu erreichen, dass im Innenraum möglichst kein störender Schall abgestrahlt wird und im Außenraum der Verkehrslärm die Umwelt nicht belastet.

Um Körperschall- und Luftschall richtig auszutarieren, haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter anderem zwei wirksame Hebel identifiziert. Der eine ist die Strukturintensität, eine Größe, die zeigt, wie sich die Energie des Körperschalls durch die Struktur ausbreitet. So wollen die Forschenden nachvollziehen, welchen Weg der Körperschall genau nimmt, um ihn dann gezielt zu steuern.

Zweiter Ansatzpunkt ist die sogenannte Low-Tone-Verzahnung von Übersetzungsmechanismen. Hierbei werden die Zähne eines Getriebes geometrisch unregelmäßig angeordnet – ein Novum in den Ingenieurwissenschaften, das dafür sorgen soll, dass Körperschall sich auf viele Frequenzen gleichmäßig verteilt und unangenehme einzelne Töne sich weniger ausprägen. Innovationen aus der Grundlagenforschung wie diese sollen nun in Kooperation mit der angewandten Forschung und Partnern aus der Industrie so optimiert werden, dass sie skalierbar, bezahlbar und damit perspektivisch reif für die Praxis werden.

Das Ziel im Akustik-Engineering ist die gezielte Gestaltung von Geräuschen durch akustische Maßnahmen – das Ziel im Automotive-Engineering ist die Vermeidung von Zusatzmassen, die typischerweise durch akustische Maßnahmen entstehen können. Meiner Meinung nach schafft die Low-Tone-Verzahnung die Verbindung zwischen beiden Zielen mittels Unterdrückung von Störgeräuschen in Verzahnungen bereits vor der Entstehung, was die Low-Tone-Verzahnung zu einer bedeutenden Zukunftstechnologie in der Automobilindustrie macht. (Dr.-Ing. Philipp Neubauer, ehem. Fachgebiet SAM, jetzt Continental Acoustic Solutions, Continental Engineering Services GmbH)

Versuchs- und Forschungshalle

Der Neubau für das Fachgebiet Systemzuverlässigkeit, Adaptronik und Maschinenakustik (SAM) vereint auf 550 Quadratmetern Nutzfläche eine Werkhalle mit drei Schallmessräumen, Messwarte und Technikabteilung. Die Maschinenakustikhalle ermöglicht hochpräzise akustische Analysen an technischen Produkten. Zur Verfügung stehen ein reflexionsarmer Halbraum, ein Hallraum und ein reflexionsarmer Vollraum, in denen Experimente zu Schalldruck, Schallleistung, Schallintensität und Schallabsorption sowie zu Schalltransmission und Richtcharakteristiken möglich sind. Die Gesamtkosten für den Neubau betrugen 5,6 Millionen Euro. Der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) der Europäischen Union hat den Spezial-Innenausbau, unter anderem schallabsorbierende Wand- und Deckenverkleidungen sowie Spezialtüren, finanziell gefördert.

Der unter Federführung des Baudezernats der TU Darmstadt entstandene Neubau ist ein weiterer Meilenstein, um den Fachbereich Maschinenbau auf dem Campus Lichtwiese in einem Quartier mit attraktiv gestalteten Außenräumen zusammenzuführen.

Publikationen

Übersichtsartikel zum Thema Akustikgerechtes Gestalten
Thema Körperschallenergie
Thema inäquidistante Verzahnung
Methodenentwicklung für Akustikgerechtes Gestalten

Gefördert durch

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