Der Krieg und seine Folgen

Expert:innen der TU Darmstadt bewerten die dramatische Lage in Osteuropa

25.02.2022

Russlands Machthaber führen Krieg gegen die Ukraine. Der militärische Überfall lässt die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung wanken. Welche geopolitischen Konsequenzen sind zu erwarten, welche Effekte werden ökonomische Sanktionen haben, welche Eskalationsgefahren gehen von Cyberangriffen und anderen Formen hybrider Kriegsführung aus? Expertinnen und Experten aus der Politikwissenschaft, Informatik und Wirtschaftswissenschaften der TU Darmstadt geben Einschätzungen.

Das Deutsche Polen-Institut, das im Darmstädter Schloss seine Räume hat, zeigt als Zeichen der Solidarität am 24. Februar 2022 eine Fahne der Ukraine.

TU-Präsidentin Tanja Brühl

Entsetzt nehmen wir die militärische Aggression durch Russland zur Kenntnis. Als TU Darmstadt verurteilen wir den völkerrechtswidrigen Akt aufs Schärfste, der der ukrainischen Zivilbevölkerung Leid und Tod bringt. Ihr gilt unsere ganze Solidarität.

Prof. Dr. Tanja Brühl, Präsidentin der Technischen Universität Darmstadt
Bild: Katrin Binner
Professor Markus Lederer
Professor Markus Lederer

Präsident Putin rechtfertigt die Invasion in der Ukraine mit außenpolitischen Motiven wie dem vermeintlichen Genozid im Donbass oder den angeblich vom Westen nicht beachteten Sicherheitsinteressen Russlands. Die tiefere Ursache liegt jedoch im hochrepressiven Herrschaftssystem, in welchem Putin unkontrolliert die fossilen Energieressourcen des Landes für seine Machtabsicherung einsetzen kann. An diesem Punkt müssen die westlichen Sanktionen greifen, auch wenn dies für Europa teuer wird und keine schnellen Erfolge zu erwarten sind.

Die Invasion Russlands hat uns schmerzhaft vor Augen geführt, welche Rolle Cyberattacken und hybride Angriffe im Rahmen militärischer Operationen zukünftig zukommt. Leider deuten die aktuellen Entwicklungen darauf hin, dass der Einsatz dieser Mittel, nicht nur direkt als Begleitung offensiver klassischer Waffeneinsätze, sondern bereits im Vorfeld zunehmend normalisiert wird und dabei auch zivile und eigentlich völkerrechtlich geschützte IT-Systeme angegriffen werden. Malware als Cyberwaffen einzusetzen, wie aktuell geschehen, beinhaltet darüber hinaus auch die Gefahr unabsichtlicher Effekte. Angesichts der Vernetzung von IT-Systemen weltweit könnten Cyberangriffe in der Ukraine auch schnell europäische oder deutsche IT-Systeme gefährden. Mit Blick auf die Entwicklung in den nächsten Wochen und den Einfluss auf die europäische Friedensordnung, die dieser Angriff unzweifelhaft haben wird, stellt sich für uns als Wissenschaftler*innen umso dringender die Frage, was wir für eine friedliche Entwicklung des Cyberspace beitragen können. Sei es in Form von Krisenfrühwarnsystemen, Möglichkeiten zur Notfallkommunikation oder auch der Entwicklung von Rüstungskontrollmaßnahmen für den Cyberspace, um weitere Eskalations- und Aufrüstungsspiralen zu verhindern.

Professorin Michèle Knodt
Professorin Michèle Knodt

Die Völkerrechtsverletzung und Invasion Russlands in der Ukraine wird weitreichende Folgen für die Energieversorgung Deutschlands und Europas haben. Kurzfristig wird es durch den Krieg und die russischen Angriffe auf Kritische Infrastrukturen für Europa zu Gaslieferungen in geringerem Umfang über die durch die Ukraine führenden Pipelines kommen. Im Bereich Kritischer Infrastrukturen haben wir zudem eine Gefahr im Bereich der Atomreaktoren im Land. Ein direkter Angriff auf die Atomkraftwerke in der Ukraine ist zwar unwahrscheinlich, aber eine militärische Invasion birgt jedoch das Risiko eines zufälligen Treffers durch Raketen oder Artillerie. Ein GAU einer der 15 ukrainischen Reaktoren liegt im Bereich des Möglichen.

Langfristig werden für Deutschland und Europa vor allem die Gaslieferungen aus Russland insgesamt auf dem Prüfstand zu stellen sein. Deutschland bezieht immer noch 60 Prozent seines Bedarfs an Gasimporten aus Russland. Nicht zuletzt seit den Gasstreitigkeiten zwischen der Ukraine und Russland Mitte der 2000er-Jahre steht die Diversifizierung der Gasimporte auf der deutschen und europäischen Tagesordnung. Passiert ist jedoch zu wenig. Daraus allerdings eine Renaissance der Kohle abzuleiten verkennt, dass auch die Kohle zu einem hohen Prozentsatz aus Russland nach Deutschland importiert wird. Rund 40 Prozent unserer Steinkohle, die u.a. in der Stahlproduktion benötigt wird, erhalten wir aus Russland. Auch deren Preis wird steigen.

Zudem kontrolliert der russische Staatskonzern Gazprom fast ein Viertel der deutschen Gasspeicher mit fatalen Folgen. Die deutschen Speicher sind auf einem historischen Tiefstand nur zu rund 40 Prozent gefüllt. Der größte Speicher in Rehden gar nur zu rund 4 Prozent. Letzterer wurde noch nach dem Annektieren der Krim mit Genehmigung der Europäischen Kommission an Gazprom verkauft.

Diesen Winter reichen die Reserven und die noch vorhandenen Lieferungen aus. Danach muss das russische Gas durch Importe aus anderen Ländern ersetzt und die Speicher sukzessive aufgefüllt werden. Teilweise wird dies durch Flüssiggas (LNG) geschehen müssen. Dafür ist Deutschland jedoch u.a. auf die niederländischen LNG-Terminals angewiesen, eigene Terminals in Deutschland gibt es nicht. Insgesamt wird dies zu einer weiteren Erhöhung des Gaspreises führen.

All dies zeigt, dass die Versäumnisse im Vorantreiben der Energietransformation und das Stocken des Ausbaus der erneuerbaren Energien eine weitgehendere Unabhängigkeit vom russischen Gas verhindert haben. In der Energietransformation werden wir noch für Jahre auf die „Erdgasbrücke“ angewiesen sein. Damit macht das Narrativ der fehlenden Energiesicherheit eine 180 Grad-Wendung. Wurde all die Jahre argumentiert, dass die Volatilität der erneuerbaren Energien in einer fehlenden Energiesicherheit resultiere, so wird nun deutlich, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien auch zur Sicherung der Deutschen Energiesicherheit beitragen kann.

Das Auf-Eis-Legen von Nord-Stream 2 macht zwar aus Nachhaltigkeitsperspektive Sinn, eine wirksame Sanktion gegen Russland ist es nicht. Pipelinekapazitäten aus Russland sind nie knapp gewesen. Die Umgehung der Ukraine war gedacht, um Putin das militärische Eingreifen in die Ukraine zu ermöglichen. Die Invasion macht dies nun nicht mehr nötig. Eine Sanktionsdrohung wäre die Einstellung der Diskussionen um zukünftige Geschäfte im Bereich des blauen Wasserstoffs gewesen. Doch beim derzeitigen Stand geht es nicht mehr um Druckmittel zukünftiger Energiepartnerschaften, sondern um harte Sanktionen wie den noch nicht beschlossene Ausschluss Russlands vom internationalen Bankensystem SWIFT.

Solidarität mit der Ukraine wird in den kommenden Monaten, je nach Ausgang des Krieges auch heißen können, dass die EU Staaten die Ukraine durch Reverse Flow der hoffentlich weiterhin funktionierenden Pipelines Gas in die Ukraine liefern.

Sanktionen sind das härteste Instrument der Diplomatie. Sie verursachen Kosten nicht nur beim Ziel, sondern auf beiden Seiten. Wer sanktioniert, macht damit deutlich, dass sie/er bereit ist, diese Kosten zu tragen. Dass die Androhung von Sanktionen Putin nicht von einem Angriff auf die Ukraine abgehalten hat, macht deutlich, dass auch er bereit ist, diese Kosten in Kauf zu nehmen. Die Sanktionen werden somit nicht kurzfristig, sondern, wenn überhaupt, allenfalls langfristig Wirkung entfalten.

Professor Volker Nitsch
Professor Volker Nitsch

Mit der von Präsident Putin angeordneten Invasion der Ukraine tritt der globale Systemkonflikt zwischen der liberalen Demokratie und der Autokratie scharf hervor. Sie beendet auch die europäische und insbesondere deutsche Illusion, man könne einen aggressiven Despoten mit Diplomatie und gemeinsamen Projekten einhegen. Die westlichen Wirtschaftssanktionen hat Putin vermutlich längst eingepreist und wird versuchen, ihre Effekte mit chinesischer Unterstützung abzumildern. Die Allianz der Autokraten nimmt Gestalt an.

Professor Jens Steffek
Professor Jens Steffek