Wiederaufbau als Chance

TU-Forschungsprojekt untersucht Reaktion auf Naturkatastrophen im 20. Jahrhundert

2022/09/07

Katastrophen wie Erdbeben, Hochwasser oder Stürme führen vor Augen, welche Gewalt in der Natur stecken kann. Ganze Gemeinschaften und Existenzen werden zerstört. Doch wenn der Staub sich gelegt hat, wie macht man dann weiter? Können die Trümmer wiederaufgebaut werden? Und lässt sich der Wiederaufbau vielleicht nutzen, um zerstörte Orte besser und widerstandsfähiger als zuvor zu machen? Diesen Fragen geht das geschichtswissenschaftliche Forschungsprojekt „Build Back Better!“ nach.

Aufbau von Behelfshäusern durch das Deutsche Rote Kreuz nach einem Erdbeben in Armenien im Dezember 1988.

Ein Forscherteam um Professor Nicolai Hannig vom Institut für Geschichte der TU Darmstadt untersucht aus historischer Perspektive die Ideen, die Menschen beim Wiederaufbau nach einer Naturkatastrophe verfolgt haben. Eine Frage dabei richtet sich an Vorsorge, um Naturgefahren zu minimieren. Eine andere Frage zielt auf die Entscheidungen darüber, was überhaupt wieder aufgebaut und was zurückgelassen wird. Build Back Better! leistet damit einen Beitrag zur zeithistorischen Erforschung des Verhältnisses von Menschen und Umwelt im Wiederaufbau von zerstörten Siedlungen, Städten und Kulturdenkmälern.

„Naturkatastrophen erlauben einen Einblick in das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Natur“, erläutert Hannig sein besonderes Forschungsinteresse. „Sie begleiten die Menschheit schon seit Beginn ihrer Geschichte. Dennoch hat sich der Umgang mit ihnen immer wieder verändert. Und diese Veränderungen waren von ganz unterschiedlichen Interessen geprägt. Teilweise sind die Bedrohungen in das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft übergegangen und Teil der Baukultur geworden.“

Ausgangspunkt des Projekts sind zwei Beobachtungen: Erstens entstanden nach Naturkatastrophen vor Ort lokale, regionale und nationale Initiativen, die Nothilfe und Wiederaufbau unmittelbar selbst zu gestalten versuchten. Parallel dazu entwickelten sich humanitäre Hilfseinsätze, Katastrophenschutz und Wiederaufbau seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem Gegenstand internationaler Beziehungen, beispielsweise in den Vereinten Nationen (UN) oder in den Rote-Kreuz-Organisationen. Unterschiedliche Akteurinnen und Akteure trafen also am Ort der Katastrophe aufeinander, unterstützten sich, gerieten aber auch in Konflikte und Konkurrenz zueinander.

Zwei Teilprojekte

Im Rahmen des Forschungsprojekts sollen zwei Wege verfolgt werden. Im ersten Teilprojekt, das Adrian Franco bearbeitet, wird die humanitäre Hilfe am Beispiel von Notunterkünften in Peru nach dem Erdbeben von 1970 untersucht. Ziel ist es, Dynamiken in Katastrophenregionen zu analysieren, die sich aus dem Zusammentreffen von internationalen Hilfsorganisationen, Forschenden, Behörden und der betroffenen Zivilbevölkerung ergaben. Im Vordergrund steht die Frage, welche Transfers und Konflikte daraus entsprangen und wie sie den nach- und vorsorgenden Wiederaufbau beeinflussten.

Das zweite Teilprojekt, bearbeitet von Julian Schellong, vergleicht unter anderem den Wiederaufbau von Skopje im heutigen Nordmazedonien nach dem Erdbeben von 1963 mit dem Wiederaufbau der zerstörten Städte in der italienischen Region Friaul nach dem Beben von 1976. Im Zentrum stehen der Denkmalschutz und dessen Rolle im Wiederaufbau und Katastrophenschutz. Der Denkmalschutz, so die Grundannahme, entwickelte sich im 20. Jahrhundert zu einer zentralen Herausforderung humanitärer Hilfe, der die internationale Staatengemeinschaft zunächst jedoch weitgehend konzeptlos gegenüberstand. Aus vergleichender Perspektive soll das Projekt der Entwicklung und Praxis des vor- und nachsorgenden Denkmalschutzes in Katastrophengebieten nachspüren.

Befragungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie die kulturelle Aufbereitung etwa in Museen oder an Gedenkorten und -tagen sind integraler Bestandteil der Materialbasis des Gesamtprojekts. „Die schweren Erdbeben, um die es im Projekt geht, haben sich in die Erinnerung der lokalen Bevölkerung eingebrannt“, so Hannig. Die Art und Weise, wie diese Ereignisse erinnert werden, ist dabei selbst ein Forschungsgegenstand. Das heißt, dass wir die Interviews mit Zeitzeuginnen und -zeugen nicht nur als eine Quelle dafür behandeln wollen, was passiert ist. Uns interessiert auch, was die Erinnerungsarbeit mit den Menschen und ihrem Umgang mit Naturkatastrophen gemacht hat.“

Forschungsprojekt „Build Back Better!“

Das Forschungsprojekt ist im Sonderprogramm „Sicherheit, Gesellschaft und Staat“ der Gerda-Henkel-Stiftung angesiedelt und hat eine Laufzeit von drei Jahren. Die Fördersumme beträgt rund 140.000 Euro. Das Forschungsteam ist eingebunden in die AG Interdisziplinäre Stadtforschung der TU Darmstadt.

Hannig/cst