Digitale Datenlandschaften

Woran Professorin Julianne Nyhan an der TU Darmstadt forscht

2024/03/11 von

Wie lassen sich die Vergangenheit, Museumsgegenstände oder mündliche Zeitzeugenberichte mit digitalen Methoden erforschen? Wie kann die Digitalisierung helfen, geschichtliche und gesellschaftliche Entwicklungen besser zu ergründen? Und wie muss gleichzeitig der Einsatz dieser Technologie kritisch begleitet werden? Fragen, mit denen sich die Irin Julianne Nyhan befasst. Seit 2022 ist sie Professorin für „Humanities Data Science and Methodology“ am Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften der TU Darmstadt.

Professorin Dr. Julianne Nyhan

Über eins freut sich Julianne Nyhan auch nach zwei Jahren noch jeden Tag: „Ich kann zu Fuß zur Universität gehen.“ Das war an ihrer früheren Wirkungsstätte, dem University College London (UCL), kaum möglich. In der englischen Metropole war Nyhan Professorin für digitale Geisteswissenschaften und Direktorin des UCL Centre für Digital Humanities. 2022 wechselte sie an die TU Darmstadt. Sprachlich ist das eine Herausforderung, „doch ich bleibe dran“, sagt sie auf Deutsch und lacht. Inhaltlich und wissenschaftlich gesehen ist die Irin jedoch am Ziel ihrer Wünsche. „Mein Forschungsschwerpunkt sind die digitalen Geisteswissenschaften. Innerhalb Europas ist Deutschland und vor allem die TU Darmstadt sehr bekannt für Digital Humanities.“ Sie arbeite jetzt am Puls der Datenwissenschaften, seit 2023 auch als geschäftsführende Direktorin des Instituts für Geschichte.

Ihr Fachgebiet „Humanities Data Science and Methodology“ beschäftigt sich mit digitalen Ansätzen in den Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften. „Wir arbeiten an der Schnittstelle zwischen historischer Forschung, Geisteswissenschaften und Informatik und wollen die Vergangenheit mit digitalen Methoden erforschen“, erläutert sie den Ansatz. Geschichte begreift die Professorin, die am University College Cork Geschichte studiert und sich promoviert hat, als ein reichhaltiges, komplexes Feld, „in dem die Vorteile und Risiken datengesteuerter, gemischter Methoden und multimodaler Wissenschaft erforscht werden können“. In einer Welt, in der die Digitalisierung rasend schnell voranschreite, will sie ihren Studierenden den größtmöglichen und besten Umgang damit lehren.

Weiterhin enge Verbindungen nach Großbritannien

Professorin Dr. Julianne Nyhan
Professorin Dr. Julianne Nyhan

Spezialisiert ist Julianne Nyhan auf Oral History, mündlich überlieferte Geschichte durch Zeitzeugen. Die Wissenschaftlerin möchte digitale Technologien für diese Art der Geschichtsforschung stärker als bisher nutzen. Die Hoffnung ist, eine komplexere und verbesserte digitale Methodik etwa für Interviews und analytische Auswertung zu entwickeln.

Für ihre Forschung an der TU Darmstadt kommen der Irin ihre weiterhin engen Verbindungen nach Großbritannien zugute. Mehrere Kooperationen hat sie angestoßen und aktuell ein vom britischen Arts and Humanities Research Council und der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziertes Forschungsstipendium eingeworben. Drei Jahre lang fließen insgesamt eine Million Euro in das Projekt „Mixed-Methods Digital Oral History: Verknüpfung von semantischen Webtechnologien und historisch-interpretativer Analyse". Zwei Postdoc- und eine Hiwi-Stelle werden an der TU Darmstadt finanziert, eine Postdoc-Stelle an der UCL. Start war im Februar. Gemeinsam will das internationale Team die Veränderungsprozesse in den Geisteswissenschaften erforschen und digitale Ansätze und Prozesse entwickeln, die von Oral-History-Forschenden genutzt werden können. Ein Datenmodell – ein Wissensgraph – soll erarbeitet und frei zugänglich gemacht werden.

Ihre Forschung will Nyhan auch außerhalb der Universität nutzbar machen und ihr Wissen mit Kollegen:innen in Bibliotheken, Museen, Archiven und der Industrie teilen. Seit mehreren Jahren arbeitet sie schon in dem mit rund drei Millionen Pfund geförderten Forschungsprojekt „Sloane Lab“, das digitale Technologien zur Erforschung historischer Museumssammlungen einsetzen will. Grundlage sind die umfassenden Kollektionen und Kataloge des Arztes und Naturforschers Sir Hans Sloane, dessen Sammelleidenschaft im 17. und 18. Jahrhundert das Fundament für das British Museum legte. Heute sind seine Sammlungen auf das Natural History Museum, die British Library und das British Museum verteilt. Für das Publikum wollen die Forschenden die Verbindung der Objekte wiederherstellen. „Wir wollen die Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpfen“, sagt Nyhan. Entstehen soll ein frei zugängliches Online-Labor – das Sloane Lab –, das Forschenden, Kurator:innen und der Öffentlichkeit neue Möglichkeiten zur Suche, Erkundung und kritischen Auseinandersetzung mit dem Kulturerbe bietet. Sloanes Sammlung wird unter anderem wegen der Finanzierung durch den Sklavenhandel durchaus kritisch gesehen. Kolonialismus, Sklaverei, all diese Aspekte sollen thematisiert werden.

Innovative Formen der Teilhabe

In dem Projekt geht es nicht allein um neue digitale Methoden, sondern auch um innovative Formen der Teilhabe. So soll die Öffentlichkeit mitentscheiden, welche Objekte in Ausstellungen gezeigt und erklärt werden. „Wir wollen so viele Menschen wie möglich mit Workshops oder Fellowship-Programmen einbeziehen. Die Sammlungen gehören jedem“, betont die Wissenschaftlerin. Das könnte Vorbild sein auch für deutsche Museen.

Mit der Arbeit am Sloane-Lab befasste sich auch ein mehrtätiges internationales Symposium, das Nyhans Fachgebiet Ende 2023 in Darmstadt organisierte. Mitveranstalter waren neben der TU Darmstadt, das British Museum, das National History Museum und das University College London, gefördert vom „Towards a National Collection Programme“ des britischen Arts and Humanities Research Council. Mitarbeiter:innen deutscher und englischer Universitäten, internationaler Bibliotheken, Staatsarchiven oder auch Dokumentationszentren nahmen teil. Die Gäste diskutierten nicht nur den Status quo. „Wir hoffen auch, die internationale Zusammenarbeit zwischen den Institutionen intensivieren und ausweiten zu können“, sagt die TU-Professorin. Sie spricht von „collections as data landscape“ – von Sammlungen, die zur Datenlandschaft werden.