„Eine spannende Zeit“

Zum 100. Geburtstag von Thomas Bernhard Seiler

10.02.2025 von

Heute, am 10. Februar 2025 wird Thomas Bernhard Seiler, emeritierter Professor für Psychologie an der Technischen Universität Darmstadt, 100 Jahre alt. Von 1976 bis zu seiner Emeritierung 1993 lehrte er am Institut für Psychologie im Fachbereich Humanwissenschaften.

Professor Thomas Bernhard Seiler

Thomas Bernhard Seiler wurde 1925 in Dietikon bei Zürich geboren. Zusammen mit 14 Geschwistern wuchs er auf dem elterlichen Bauernhof auf. „Schon als Kinder halfen wir auf dem Bauernhof mit. Im Sommer waren wir bei der Getreide- und Kartoffelernte im Einsatz. Als ich größer wurde, hütete ich im Herbst auch die Kühe auf der Weide“, beschreibt er. „Das Gymnasium besuchte ich in Fribourg. Wenn ich in den Ferien zu Hause war, wurde ich aber auch eingespannt, genau wie meine Geschwister.“ 1945 erwarb er am Kollegium St. Michael das eidgenössische Maturitätszeugnis, das ihm den Eintritt in die Universität erlaubte.

Seiler studierte zunächst Philosophie und Theologie an der Universität Fribourg und in Rom. Nach seinem Abschluss 1953 arbeitet er als Lehrer und unterrichtete schwer erziehbare Kinder und Jugendliche. Gleichzeitig studiert er die Fächer Mathematik, Physik, Botanik und Französische Literatur für das Sekundarlehramt. Zudem Psychologie im Nebenfach. „Das schönste Fach für mich war Französische Literatur. Damals war Pierre-Henri Simon der Professor in Fribourg – einer der großen Literaten Frankreichs. In der Zeit, bevor ich nach Deutschland kam, las ich nur französische Romane, vor allem Marcel Proust“, erinnert er sich. 1960 schloss er das Studium mit dem schweizerischen Sekundarlehrerpatent ab. „Ich musste ja auch einen Beruf haben“, sagt Seiler lächelnd.

Dissertation zur Erkenntnistheorie

1976 folgte Seiler einem Ruf an die damalige Technische Hochschule Darmstadt.
1976 folgte Seiler einem Ruf an die damalige Technische Hochschule Darmstadt.

Sein Interesse galt auch weiterhin der Philosophie. 1961 begann er mit der Arbeit an einer Dissertation im Bereich der Erkenntnistheorie. Bei einem Studienaufenthalt in Paris an der Sorbonne lernte er den Biologen und Entwicklungspsychologen Jean Piaget kennen. „Ich besuchte seine Vorlesungen und las seine Werke. Da ging mir erst auf, dass Jean Piaget als Schöpfer einer evolutionären Erkenntnistheorie zu gelten hat, die es in dieser Weise bisher nicht gab. Das hat mich fasziniert und ich fing an, mich mit ihm auseinanderzusetzen." Der Wissenschaftler ergänzt: „Sehr schwer, aber auch sehr schön.“

1963 folgte er einer Einladung des Psychologen und Pädagogen Hans Aebli nach Deutschland. „Aebli war ein Schüler von Piaget und mich interessierte sehr, warum er bei einigen Themen zu Psychologie und Didaktik seine Meinung geändert hatte. Als ich wieder einmal in Zürich in Ferien war, traf ich mich mit ihm und wir diskutierten den ganzen Nachmittag“, erzählt Seiler. „Am Schluss sagte er mir, dass er gerade einen Ruf nach Berlin an die Freie Universität erhalten habe und fragte, ob ich nicht mitkommen wolle.“ In Berlin schloss er 1964 sein Psychologiestudium mit dem Diplom ab. Dort reichte er auch eine Dissertation zum Begriff der Reversibilität in der Theorie Jean Piagets ein, für die er 1966 promoviert wurde.

Als Assistent arbeitete und forschte er anschließend an der Freien Universität in Berlin und am Zentrum für Bildungsforschung an der Universität Konstanz. 1971 wurde er als Professor für Kognitive Entwicklung an die Freie Universität Berlin berufen. „Das war eine schöne Zeit in Berlin. Meine Frau ist ja Berlinerin und hat dort Klinische Psychologie studiert.“

Ruf nach Darmstadt

1976 folgte er schließlich einem Ruf an die Technische Hochschule Darmstadt. „In Berlin hatte ich eine C3-Professur. Mitte der 70er-Jahre interessierte ich mich dann für eine C4-Professur. Sowohl Tübingen als auch Darmstadt hatten eine solche Stelle ausgeschrieben. Also bewarb ich mich“, sagt Seiler. „Zuerst bekam ich den ersten Listenplatz von der Universität Tübingen. Da hatte ich zusammen mit der Institutsleitung sogar schon ein neues Institutsgebäude ausgewählt. Aber der damalige Kultusminister wollte mich nicht. Er war gegen alles, was aus Berlin kam, das war ihm zu revolutionär.“

Nachträglich war er mit der Entscheidung für Darmstadt sehr glücklich: „Das Institut für Psychologie wurde damals gerade erst aufgebaut und entwickelt. Das war eine spannende Zeit. Und die TU Darmstadt ist eine schöne Universität. Auch das Klima im Fachbereich fand ich sehr angenehm. Von ein paar Kabbeleien abgesehen, haben wir uns immer gut vertragen“, betont er lachend.

Am Institut für Psychologie forschte und lehrte Thomas Bernhard Seiler im Bereich der Kognitionsentwicklung. Seine Lehrverpflichtung lag im Bereich der Pädagogischen Psychologie. „Zudem war das Institut auch mitverantwortlich für die Ausbildung der Lehramtskandidaten. Da befasste ich mich hauptsächlich mit Lernmethoden und Denkentwicklung“, erklärt Seiler. „Mit den Studentinnen und Studenten führte ich auch viele Untersuchungen durch. Etwa die Entwicklung bei Jugendlichen, wie sie ihre Lebens- oder Weltfragen beantworten und lösen und wie sich das im Laufe der Zeit verändert. Und nebenher versuchte ich, meine Ideen über die Entwicklung des Denkens zu vertiefen und zu verfeinern.“

Schon als Kind am Denken und Wissen interessiert

Der Hochschulbetrieb gefiel dem promovierten Psychologen immer gut. „Was ich an meiner Arbeit gernhatte? Dass ich das machen konnte, was mich am meisten interessierte. Schon als Kind war ich am Denken und Wissen interessiert. Diesem Interesse an der Universität nachzugehen, es zu vertiefen und neue Ideen zu produzieren, war für mich das Schönste. Auf der Basis der Theorie Jean Piagets beschäftigte ich mich immer weiter mit dem Denken“, beschreibt er. „Wie kommt das Denken zustande, wie verändert es sich, welche Prozesse sind dafür verantwortlich – das sind einige der Fragen, die mich mein Leben lang beschäftigt haben und noch beschäftigen.“ Auch die Zusammenarbeit mit den Studentinnen und Studenten gefiel ihm sehr: „Ich hatte mit vielen Studierenden einen guten Kontakt. Sie interessierten sich oft für die Themen, die auch mich bewegt haben.“

Die Zeit nach seiner Emeritierung nutzte Seiler unter anderem, um Bücher zu schreiben. 2023 veröffentlichte er sein vorerst letztes Werk „Rationales Wissen und Denken. Macht und Ohnmacht, Chancen und Grenzen“. Außerdem reist er gerne. „Meine Frau und ich waren schon immer viel und gerne unterwegs. Früher sind wir von Berlin in die Schweiz zum Skifahren, heutzutage reisen wir gerne nach Interlaken oder Ascona.“ Sowohl nach Berlin als auch in die Schweiz ist der Kontakt immer erhalten geblieben. Das liegt auch daran, dass seine drei Kinder und die Enkelkinder dort leben. An Festen wie Weihnachten versammeln sie sich alle gerne im Elternhaus an der Bergstraße. „Ich hatte immer wieder viel Glück in meinem Leben. Natürlich gab es auch bei mir Schicksalsschläge. Aber die muss man akzeptieren und nie die Hoffnung verlieren, dass es auch immer wieder gut wird“, ist sich Thomas Bernhard Seiler sicher.

Vortrag von Thomas Bernhard Seiler

Am 21. Februar spricht Professor Thomas Bernhard Seiler an der TU Darmstadt beim 109. Ernst-Schröder-Kolloquium des Ernst-Schröder-Zentrums für begriffliche Wissensverarbeitung: um 16 Uhr im Mathe-Gebäude, S2|15, Raum 244, Schlossgartenstraße 7

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