„Die Ambivalenz des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts bewusst machen“

Der neu berufene Jonathan Tucker zählt international zu den renommiertesten Experten für biologische und chemische Waffen und Rüstungskontrolle

15.12.2010

Professor Jonathan B. Tucker. Foto: Katrin Binner

Der US-amerikanische Friedensforscher Jonathan B. Tucker hat die Georg Zundel-Stiftungsprofessur „Wissenschaft und Technik für Frieden und Sicherheit“ an der TU Darmstadt inne. Der Spezialist für biologische und chemische Waffen, will eine Brücke zwischen den Natur- und den Sozialwissenschaften bauen. Er wird an der TU am Aufbau des Forschungsschwerpunkts Synthetische Biologie mitwirken, im Masterstudiengang Internationale Studien/Friedens- und Konfliktforschung lehren und eng mit der Gruppe IANUS kooperieren. Im Interview äußert er sich zu seinen Themen und Zielen

Es gibt seit mehreren Jahrzehnten internationale Übereinkommen, die biologische und chemische Waffen verbieten – wie viele Staaten verfügen heute überhaupt noch über biologische und/oder chemische Waffen?

Man muss zuerst deutlich unterscheiden zwischen chemischen Waffen, also hochgiftigen Verbindungen wie Senfgas oder Sarin, die künstlich hergestellt werden, und biologischen Waffen, die aus natürlichen Krankheitserregern wie Milzbrandbakterien oder Pockenviren bestehen. Die USA und Russland haben aus Zeiten des Kalten Krieges verbleibende Vorräte chemischer Waffen, haben diese aber gemäß der Chemiewaffen-Übereinkunft (CWÜ) deklariert und sich verpflichtet, sie zu zerstören. Eine Reihe anderer Staaten werden allerdings verdächtigt, immer noch offensiv ausgerichtete C-Waffenforschungs- und -entwicklungsprogramme zu betreiben oder sogar heimliche Bestände zu besitzen. Dazu gehören zum einen Staaten, die bislang nicht dem CWÜ beigetreten sind, zum Beispiel Ägypten, Syrien, Israel und Nordkorea, aber auch CWÜ-Mitgliedstaaten wie der Iran. Viel weniger ist über Staaten bekannt, die über biologische Waffen verfügen, weil solche Programme unter dem Deckmantel legitimer Aktivitäten sehr leicht zu verstecken sind.

Was braucht man eigentlich für ein Biowaffen-Programm?

Biowaffen herzustellen ist sicherlich erheblich billiger und einfacher als Atomwaffen zu bauen. Jedoch ist der Erwerb effektiver Biowaffen nicht so einfach, wie es oft in der Presse geschildert wird. Man braucht dafür die Ausrüstung, das Know-how und den Ausgangsstoff für die Waffe, das heißt einen virulenten Stamm eines Erregers. Weiterhin sind geeignete Ausbringungstechnologien nötig, was weit über die Biotechnologie hinausgeht. Um das alles zusammenzubekommen und die daraus resultierende Waffe wirksam einzusetzen, muss man schon viele technische Hürden überwinden.

Wann hat das letzte Mal eine staatliche Armee biologische oder chemische Waffen eingesetzt?

Der letzte Staat, der biologische Waffen eingesetzt hat, war Japan im Zweiten Weltkrieg. Die Japaner warfen auf chinesische Städte Bomben aus Keramik ab, die mit Pest infizierte Flöhe enthielten. In der Folge starben zwar viele chinesische Zivilisten, die militärische Wirkung war allerdings gleich null. Chemische Waffen hat zuletzt tatsächlich Saddam Hussein während der 80er Jahre eingesetzt, und zwar große Mengen von Senfgas und den Nervenkampfstoffen Tabun und Sarin, sowohl im Iran-Irak-Krieg als auch gegen aufständische Kurden innerhalb des Iraks.

Wo sehen Sie heute und in der Zukunft die größten Bedrohungen auf dem Gebiet der B- und C-Waffen?

Die Terrorangst seit dem 11. September 2001 hat in den letzten Jahren zu vielen staatlichen Programmen geführt, die sich mit dem Schutz vor biologischen Waffen beschäftigen, etwa um Impfstoffe zu entwickeln. Das kräftige Wachstum der B-Schutz-Forschung hat aber ironischerweise die Folge, dass es das Risiko des Missbrauchs wahrscheinlich gesteigert hat. Denken Sie etwa an die Milzbrand-verseuchten Briefe, die 2001 in den USA verschickt wurden. Der mutmaßliche Täter war wohl ein Biologe, der in einem B-Schutzprogramm des US-Heeres mit Milzbrandbakterien gearbeitet hatte und erst dadurch Zugang zum Erreger bekam. Zudem besteht auch die Gefahr, dass solche Schutzprogramme als Deckmantel für offensiv ausgerichtete Programme dienen können.

Was reizt Sie in diesem Zusammenhang an Ihrer Stelle?

Die Georg Zundel-Professur, die sowohl am Fachbereich Biologie als auch am Fachbereich Sozial- und Geisteswissenschaften angesiedelt ist, ist mir praktisch auf den Leib geschnitten. Ich glaube dass diese Professur weltweit einmalig ist und ich hier die große Chance habe, völlig interdisziplinär zu arbeiten. Ein anderer Anreiz der TU Darmstadt ist die damit vergleichbare Arbeit von IANUS, der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit, der eigentlichen Urheberin der Stiftungsprofessur.

Wo sehen Sie Ihre wichtigsten Aufgaben an der TU Darmstadt?

Ich glaube, dass viele Wissenschaftler überzeugt sind, ihre Forschung würde nur für positive Zwecke eingesetzt werden. Aber vielen Technologien wohnt eine inhärente Ambivalenz inne: Sie haben sowohl friedliche als auch nichtfriedliche Anwendungen. Wir nennen diese Problematik das „dual-use“-Dilemma. Die Anerkennung der Möglichkeit des Missbrauchs bringt eine gewisse Verantwortung seitens der Wissenschaftler mit sich. Meine wichtigste Aufgabe sehe ich darin, den Studierenden diese Ambivalenz des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts bewusst zu machen und ihnen ihre Verantwortung zu verdeutlichen.

Wie wollen Sie dieses Verantwortungsgefühl stärken?

Das ist eine Aufgabe, die sowohl die Lehre als auch die Forschung betrifft. Ich möchte zum Beispiel im neuen Schwerpunkt „Synthetische Biologie“ sicherstellen, dass die Studierenden Fragen der Bioethik und die sicherheitspolitischen Auswirkungen der synthetischen Biologie wahrnehmen.

Über welche Studierenden würden Sie sich freuen und was können die Studierenden erwarten?

Wenn man Naturwissenschaftler oder Ingenieur werden will, soll man sich des möglichen Missbrauchs bewusst werden und eine gewisse Verantwortung übernehmen. Das Beispiel von Computerviren zeigt, dass die „dual-use“-Problematik über die Biologie und die Chemie hinausgeht. Wissenschaft und Technik existieren nicht im luftleeren Raum, sondern innerhalb einer Gesellschaft und haben Auswirkungen auf uns alle. Wir müssen deshalb Steuerungsmaßnahmen entwickeln, um die Risiken von Neuentwicklungen in Grenzen zu halten, ohne deren Nutzen erheblich zu beeinträchtigen. Ich hoffe, dass Studierende nicht nur aus der Biologie, der Chemie und der Politikwissenschaft, sondern aus allen Fachbereichen sich für diese spannende Aufgabe interessieren.

Zum Thema:

Den vollständigen Artikel finden Sie in der hoch3 7/2010