Ausgezeichnete Lawinenforschung: Antirisse im Schnee

Im Porträt: Dr.-Ing. Philipp Rosendahl

2023/11/24 von

Dr.-Ing. Philipp Rosendahl hat Maschinenbau studiert. Jetzt erforscht er, wie Lawinen ins Rutschen geraten. Dafür erhält er den Dr. Hans Messer Stiftungspreis 2023.

Dr.-Ing. Philipp Rosendahl

Die in der Wissenschaft geforderte Interdisziplinarität verkörpert kaum jemand besser als Philipp Rosendahl (34), Forschungsgruppenleiter am Institut für Statik und Konstruktion des Fachbereichs Bau-und Umweltingenieurwissenschaften der TU Darmstadt. In seiner Doktorarbeit, die er 2020 abschloss, beschäftigte er sich mit Klebeverbindungen in Glasfassaden. Mit einem mathematischen Modell zu Rissen im Silikonkleber machte er die Tragfähigkeit von Fassadenelementen berechenbar. Als begeisterter Skitourgänger wandte er dasselbe Modell aber schon damals auf die Vorhersage von Schneebrettlawinen an – quasi als Freizeitbeschäftigung neben seiner Doktorarbeit. „Die mathematische Beschreibung ist die gleiche, für den Schnee sind nur andere Kennwerte nötig“, erklärt Rosendahl.

Nominiert für den Young Snow Professional Award

Schon eine einzelne Person kann die Schneemasse so belasten, dass eine tiefliegende Schneeschicht kollabiert und die Schneedecke abrutscht. Fachleute sprechen in diesem Fall von Antirissen. Sie verhalten sich nicht wie ein normaler Riss, sondern können sich in Sekundenschnelle großflächig über einen ganzen Hang ausbreiten und zu mächtigen Lawinen führen. Bereits als Hobby-Lawinenforscher erregte Rosendahl mit seinen Erkenntnissen so viel Aufsehen, dass er 2018 für den Young Snow Professional Award nominiert wurde. Nach Abschluss seiner Doktorarbeit im Februar 2020 gründete er als Post-Doktorand das Center for Snow and Avalanche Research an der TU Darmstadt. Im damaligen TU-Professor Jens Schneider, passionierter Skifahrer und Leiter des Fachgebiets Statik, fand er den idealen Unterstützer. Rosendahl kooperiert zudem eng mit dem WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung im schweizerischen Davos. Im dortigen Kältelabor züchtet er Schnee für seine Experimente. Feldversuche finden ebenfalls in Davos statt. Mal schneidet Rosendahls Team dafür neun Meter lange Blöcke aus dem Schnee, mal werden Mini-Lawinen auf dem geneigten Dach eines Geräteschuppens simuliert.

Open-source-Software, die das Lawinenrisiko in Echtzeit beurteilt

Rosendahl veröffentlichte seine Forschungsergebnisse schon mehr als 20 Fachartikeln und 30 wissenschaftlichen Tagungsbeiträgen sowie in Magazinen für Alpinsportler und Schulungen der NATO-Gebirgsjäger. Seine Open-source-Software, die das Lawinenrisiko in Echtzeit beurteilt, wurde bereits mehr als 13.000 Mal heruntergeladen und ist zudem am WSL-Institut in Davos im Einsatz. Und da Rosendahl nach wie vor über den Tellerrand blickt, hat er sein Modell im Auftrag eines Autobauers schon auf 3D-gedruckte Bauteile für E-Motoren angewandt: „Solche Leichtbaukomponenten bestehen wie Schnee aus verschiedenen Schichten mit vielen Poren und können bei Belastung versagen.“

Rosendahl zog vor 14 Jahren aus dem brandenburgischen Zeuthen zum Maschinenbau-Studium nach Darmstadt. Auf allen Stufen seiner akademischen Ausbildung und Karriere sammelte er Auslandserfahrung. Während des Bachelor-Studiums ging er für einige Monate nach Schweden, während des Master-Studiums nach Illinois (USA) und im vergangenen Jahr forschte er von März bis August an der University of California in Santa Barbara (USA). Für das kommende Jahr plant er mehrere Forschungsaufenthalte in Davos. Mit im Gepäck wird dann eine tragbare Apparatur sein, die er mit dem Preisgeld der Dr. Hans Messer Stiftung bauen möchte. Sie kann Druck- und Scherbelastungen in Schneeproben gleichzeitig bestimmen und wird die Vorhersage von Schneebrettlawinen noch verlässlicher machen.