Verhakt und versteift

Bewegung in einem wirren Wurmknäuel

2025/06/13

Physiker der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) haben zusammen mit Kolleginnen und Kollegen der TU Darmstadt und TU Dresden die Bewegung in Knäueln aus aktiven, sich selbst bewegenden flexiblen Polymerketten untersucht. Dabei fanden sie neue physikalische Gesetze, mit denen sie auch lebende Wurm- und Tentakelcluster beschreiben können. In der Zeitschrift Nature Communications beschreiben sie, dass durch die aktive Bewegung lebender Individuen neuartige interne Verhakungen auftreten, die ein solches dynamisches Knäuel so versteifen können, dass sie praktisch wie ein Feststoff sind.

Computersimulationsschnappschuss von verhakten aktiven flexiblen Polymerfäden. Verschiedene Farben deuten verschiedene Ketten an.

Regenwürmer finden sich oft zu einem Knäuel zusammen, aus dem sie sich kaum befreien können. Ein ähnlich aktiv zappelndes Gebilde entsteht, wenn sich die Tentakel von Feuerquallen verhaken. Tentakelroboter machen sich dies zu Nutze, indem sie mit einer Vielzahl von künstlichen flexiblen Armen Objekte greifen und bewegen. Und auch auf der kleineren Mikrometerskala finden sich solche vernetzten, sich bewegende Filamente, zum Beispiel in einer biologischen Zelle.

Die Ketten oder Tentakel werden auch Polymerketten genannt. Sind diese nur thermischem Rauschen unterworfen, wird die Struktur und Dynamik solcher Knäuel von der klassischen Polymerphysik beschrieben. Die theoretische Beschreibung fußt auf einem Röhrenbild: Eine Polymerkette kriecht zufällig innerhalb einer gewundenen Röhre, die durch ihre Nachbarn gebildet wird, hin und her.

Professor Hartmut Löwen vom Institut für Theoretische Physik II der HHU: „Mit diesem Bild können Physiker vorhersagen, wie schnell sich eine Kette aus einem Knäuel befreien kann. Dies hängt entscheidend über ein sogenanntes Skalierungsgesetz mit einem universellen Exponenten mit der Kettenlänge zusammen, also: Um welchen verlängert sich die Zeit, bis sich eine Kette befreit hat, wenn sie doppelt so lang ist.“ Für diese Polymermodellierung erhielt Pierre-Gilles de Gennes im Jahr 1991 den Physiknobelpreis.

Knäuel aus 200 Glanzwürmern (Lumbriculus variegatus). Der Längenmaßstab beträgt 3mm.
Knäuel aus 200 Glanzwürmern (Lumbriculus variegatus). Der Längenmaßstab beträgt 3mm.

Offen war bisher aber, wie sich das Modell verändert, wenn die Polymere aktiv sind, sich also beispielsweise aus zufällig zitternden Ketten lebender Würmer bestehen. Diese zentrale Frage aus dem Forschungsgebiet der „aktiven weichen Materie“ blieb lange Zeit ungelöst. Forschende der HHU, der TU Darmstadt und der TU Dresden sowie des Max-Planck-Instituts für die Physik komplexer Systeme in Dresden sind nun mit Hilfe großangelegter Computersimulationen dieser Dynamik auf die Spur gekommen. Sie konnten zeigen, dass sich die Skalierungsgesetze grundlegend ändern: Der zugehörige Exponent verändert sich deutlich im Vergleich zum passiven Fall von zufällig extern angestoßenen Ketten.

Dabei haben die Forschenden nicht nur den neuen Exponenten bestimmt, sondern entwarfen auch ein neues Röhrenbild, in dem die neuen Phänomene eingeordnet und anschaulich verstanden werden können. Sie stellten damit fest, dass sich die Steifigkeit dieser lebenden Polymermasse extrem erhöht, weil sich ein lebendes System von selbst durch interne Greifkräfte verhakt und blockiert.

Erstautor Dr. Davide Breoni, der bei Professor Löwen promovierte und jetzt in Trento in Italien forscht: „Es war mühevoll, diese Knäuel für verschiedene Polymergrößen in unserem Rechnermodell zu präparieren. Wir konnten dann aber die zu Grunde liegenden Skalierungsgesetze für verschiedene Polymerlängen numerisch extrahieren.“

Dr. Suvendu Mandel, der als Postdoktorand an der HHU gearbeitet hat und jetzt in Darmstadt arbeitet, führt weiter aus: „Die neuen Gesetze revolutionieren die Polymerphysik. Sie zeigen, dass lebendige Systeme sich sehr einfach kollektiv verhaken, wodurch sie insgesamt versteifen. Intuitiv würde man dagegen erwarten, dass sie sich schneller befreien können, weil sie sich ja aktiv bewegen.“

Professor Löwen weist darauf hin, dass diese Erkenntnisse einen praktischen Nutzen haben können: „Mit ihnen können neue, ‚smarte Materialien‘ entwickelt werden, die sich auf Knopfdruck versteifen, also ihre visko-elastischen Eigenschaften drastisch ändern.“ Arne Claussen/mho

Originalpublikation

Davide Breoni, Christina Kurzthaler, Benno Liebchen, Hartmut Löwen, Suvendu Mandal. Giant Activity-Induced Stress Plateau in Entangled Polymer Solutions. Nature Communications 16, 5305 (2025).

DOI: 10.1038/s41467-025-60210-9