Euroskepsis und AfD-Aufwind prägen Wahlklima
Ergebnisse einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage vor der Europawahl
05.06.2024
Bei den Europawahlen am 9. Juni können rechtspopulistische Parteien in Europa auf große Stimmenanteile hoffen. In Deutschland hat die AfD gute Chancen auf Platz 2. Zudem scheint sich in der Bundesrepublik mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) eine neue Partei zu etablieren. Vor diesem Hintergrund haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der TU Darmstadt und der Universität Oldenburg die Einstellungen und Parteipräferenzen der Wählerinnen und Wähler in Deutschland erforscht.
Die Forschenden – , Professorin Michèle Knodt und Professor Christian Stecker vom Institut für Politikwissenschaft der TU Darmstadt sowie Christine Quittkat von der Universität Oldenburg – befragten in einer bevölkerungsrepräsentativ quotierten Online-Umfrage 3319 Bürgerinnen und Bürger im Zeitraum zwischen 17. und 31. Mai. Die Befragten wurden nicht in einer Zufallsauswahl gewonnen, sondern entsprechen entlang wichtiger Merkmale (Bildung, Geschlecht, Alter) den Bevölkerungsanteilen in der Bundesrepublik. Christina-Marie Juen
Wahlabsicht: AfD als Nummer zwei bei der Europawahl
Die Befragten haben angegeben, wie sie bei der kommenden Europawahl und einer möglichen Bundestagswahl (“Sonntagsfrage”) wählen würden. Die Ergebnisse zu den Wahlabsichten der Umfrageteilnehmer zur Europawahl ähneln denen . Auffällig ist, dass die Stimmenanteile der Parteien kaum zwischen Europa- und (potentieller) Bundestagswahl variieren. anderer aktueller repräsentativer Umfragen
Der Balken der “Sonstigen” (darunter finden sich z. B. Volt, DieBasis oder die Piraten) ist bei der Europawahl etwa 3 Prozent größer. Dies liegt daran, dass bei Europawahlen keine Sperrhürde wie bei Bundestagswahlen existiert. Unterstützerinnen und Unterstützer kleiner Parteien können darauf hoffen, dass ihre Stimme nicht verloren geht und sie sich nicht für eine größere Partei entscheiden müssen. Bei den letzten Europawahlen reichten bereits 0,6% der Stimmen, um eines der 96 Mandate für die Bundesrepublik im Parlament in Straßburg zu gewinnen.
Viele AfD-Wähler bewerten den ökonomischen Nutzen der EU falsch und wollen einen DEXIT, der ihnen schaden würde
Wie die Bürgerinnen und Bürger die EU bewerten, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Ein Faktor ist die Frage, inwiefern man glaubt, dass die Bundesrepublik ökonomisch von der EU-Mitgliedschaft profitiert. Da Deutschland größter Nettozahler der EU ist, liegt für einige der Schluss nicht fern, dass Deutschland vor allem Zahlmeister sei und von einem EU-Austritt finanziell profitieren würde. Wissenschaftlich gesehen ist das falsch – das Gegenteil ist der Fall: Die Bundesrepublik profitiert erheblich von der EU und ihrem Binnenmarkt. Über die Wirschaftsordnung der EU, in der von , kann man sicher streiten – der Nettonutzen der EU-Mitgliedschaft steht jedoch außer Frage. Das einigen eine marktliberale Schlagseite erkannt wird aus Köln schätzt beispielsweise, dass bei einem DEXIT, also einem Austritt Deutschlands aus der EU, allein in den ersten fünf Jahren etwa 690 Milliarden Euro Wertschöpfung oder 5,6 Prozent des BIP verloren gehen würden. Dies würde vor allem für die unteren Einkommensgruppen erhebliche Einkommenseinbußen wie auch eine erhöhte Gefahr des Arbeitsplatzverlustes bedeuten. Institut der deutschen Wirtschaft
Den faktischen ökonomischen Nutzen der EU erkennen insgesamt über 55 Prozent der Befragten an. Allerdings zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen den Anhängern der verschiedenen Parteien. Die AfD sticht hier mit einer hohen Negativbewertung hervor. Mehr als ein Drittel ihrer Anhänger sieht die Bundesrepublik durch die EU-Mitgliedschaft eher benachteiligt. Auch ein größerer Anteil bei BSW und Freien Wählern stellt die ökonomischen Vorteile der EU in Frage. Bei den Wählern von Grünen, SPD, FDP, CDU/CSU und Die Linke hingegen überwiegt die positive Bewertung.
Wie bei der ökonomischen Bewertung offenbaren sich Gräben bei der Frage, ob deutsche Identität und Kultur von der EU-Mitgliedschaft gefährdet ist.
Vor allem AfD-Anhänger sehen dieses Risiko. Unsere Umfrage erlaubt freilich nicht, genauer auszubuchstabieren, aus welchen Gründen die Menschen zu dieser Bewertung gelangen. Bestehende Forschung zeigt jedoch, dass besonders rechtspopulistische Wähler und Wählerinnen eine Rückbesinnung auf den Nationalstaat favorisieren und Transnationalisierung und Globalisierung sehr kritisch sehen.
Klare Präferenzunterschiede zwischen den Anhängern der Parteien zeigen sich in der zentralen Frage, ob Deutschland aus der EU austreten sollte. Insgesamt sprechen sich etwa 70% der Befragten für einen Verbleib in der EU aus. Vor allem Wähler der etablierten Parteien sind dabei gegen einen Austritt aus der EU. Anders sieht es bei Freien Wähler, BSW und AfD aus. AfD-Wähler plädieren in großen Teilen (etwa 43%) eher oder voll für einen DEXIT – und würden davon ökonomisch große Nachteile erleiden.
Gegensätzliche Ansichten zur EU-Mitgliedschaft der Ukraine
Mit dem Angrifskrieg Russlands auf die Ukraine haben sich neue Konflikte im Parteienwettbewerb etabliert, bei denen es u.a. um die Aufnahme ukrainischer Geflüchteter oder die Lieferungen von Waffen an die Ukraine geht. Im Kontext der Europawahlen ist die Frage relevant, ob und wie schnell die Ukraine in die EU aufgenommen werden sollte.
Eine zügige Aufnahme wird von 55 Prozent der Befragten befürwortet, erneut mit erheblichen Unterschieden zwischen den Anhängern verschiedener Parteien. AfD-Unterstützer zeigen die größte Ablehnung, die Anhänger der Grünen die größte Zustimmung einer zügigen EU-Mitgliedschaft der Ukraine.
Über die Kompetenzverteilung zwischen EU und Deutschland weiß die Wählerschaft wenig
Bereits in den Anfängen des Wahlkampfes hat sich gezeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger Probleme von der EU gelöst bekommen wollen, für die die EU kaum eigenständige Kompetenzen hat. Dies trifft vor allem auf soziale und Umverteilungsfragen zu, berührt aber auch die Transformation unserer Energiesysteme und die Außen- und Verteidigungspolitik. Gerade letzteres Politikfeld ist ein Paradebeispiel für das ständige Beklagen der Einstimmigkeit auf europäischer Ebene, das jedoch mit dem Fehlen exklusiver europäischer Kompetenzen erklärt werden kann.
Über die tatsächliche Kompetenzverteilung in der EU herrscht bei den Bürgerinnen und Bürgern laut unserer Umfrage weitgehende Unkenntnis. In der Abbildung ist dargestellt, wo die Anhänger verschiedener Parteien die Kompetenzen in wichtigen Politikbereichen verorten, zwischen (1) ausschließlich in Deutschland und (11) ausschließlich bei der EU. Die Befragten ordnen sich im Durchschnitt über verschiedenste Politikbereiche in der Mitte ein, was so interpretiert werden kann, dass sie die Kompetenzen nicht verorten können.
Klare Meinungen haben Bürgerinnen und Bürger hingegen dazu, bei wem die Kompetenzen im jeweiligen Politikfeld liegen sollten. Dabei zeigt sich ein Trend entlang der Parteipräferenzen. Während die Anhängerinnen der SPD, Grünen und Linken in Teilen sogar für eine stärkere Kompetenz auf Seiten der EU votieren, zeigen die Präferenzen bei AfD und BSW erkennbar in die nationale Richtung. Anhänger beider Parteien sind deutlicher dafür, Kompetenzen in Deutschland zu belassen. Dies deckt sich mit den bereits gezeigten Befunden, die insbesondere der AfD ein hohes Niveau an Euroskeptizismus zuschreiben.
Der Osten ist euroskeptischer als der Westen
Die Einstellungsforschung weist regelmäßig große Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland nach. Dies trifft auch auf die Einstellungen zur EU zu, wie unsere Umfrage zeigt. Dazu stellt die Abbildung die Mittelwerte für verschiedene Fragen nach ost- und westdeutschen Befragten getrennt dar. Dabei zeigt sich, dass Ostdeutsche auch die wirtschaftlichen Vorteile der EU anerkennen, aber etwas schwächer als bei westdeutschen Befragten. Ähnlich verhält es sich mit dem DEXIT – auch er wird im Osten mehrheitlich abgelehnt, aber weniger stark als im Westen.
Insgesamt zeigen sich für alle Fragen signifikante Unterschiede, wobei die ostdeutschen Befragten immer etwas euroskeptischer erscheinen. Diese Einstellungsunterschiede dürften zum Teil auch die Unterschiede in den Wahlabsichten erklären. Dazu zeigt die Grafik die Stimmenanteile unter den Befragten getrennt nach beiden Landesteilen. Im Osten ist die AfD deutlich stärker als im Westen und auch das BSW erhält einen deutlichen Zuschlag.
Michèle Knodt, Christian Stecker, Christine Quittkat, Christina-Marie Juen