Ein begeisternder Historiker
Nachruf auf Helmut Böhme
29.12.2012 von Prof. Dr. Dieter Schott
Das Institut für Geschichte der TU Darmstadt trauert um Prof. Dr. Helmut Böhme, der am 29.12.2012 überraschend starb. Helmut Böhme wurde 1969 zum Professor für Neuere Geschichte an das damals im Aufbau befindliche Institut für Geschichte der TH Darmstadt berufen und gehörte dem Institut auch nach dem Ende seiner Präsidentschaft als aktiver Professor bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2004 an.
Der 1936 in Tübingen geborene und in Stuttgart aufgewachsene bekennende Schwabe studierte ab 1955 Geschichte, Germanistik, Anglistik und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Tübingen und Hamburg. 1962 wurde Helmut Böhme mit einer Arbeit über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft in der Reichsgründungszeit promoviert. Als Schüler von Fritz Fischer hatte er in den 1960er Jahren bedeutenden Anteil an der für die Erneuerung der deutschen Geschichtswissenschaft zentralen „Fischer-Kontroverse“ über die Ursachen des Ersten Weltkriegs.
Paradigmenwechsel in der Forschung
Insbesondere Helmut Böhmes Forschungen zur Handelspolitik im Kaiserreich („Deutschlands Weg zur Großmacht“, 1966), aber auch sein vielfach aufgelegtes Lehrbuch „Prolegomena zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert“ (erstmals 1969) trugen zum wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Paradigmenwechsel in der historischen Forschung bei. Seine Habilitationsschrift zur Stadtgesellschaft und Stadtverfassung der Handelsstädte Frankfurt und Hamburg im 19. Jahrhundert (1968) wies bereits auf Böhmes später intensiv verfolgtes Interesse an Stadtgeschichte hin.
Stadtgeschichtlicher Fokus
Helmut Böhme förderte auch als Präsident der TH Darmstadt (1971-1995) die Entwicklung des Instituts für Geschichte und forderte die Geistes- und Sozialwissenschaften in Darmstadt nachdrücklich zum Brückenschlag zu Architektur und Technikwissenschaften auf, den er selbst auch während seiner Präsidentschaft mit Vorlesungen zur Stadtgeschichte und Stadtbaugeschichte am Fachbereich Architektur praktizierte. Sein Einsatz für einen sensibleren Umgang mit historischer Bausubstanz manifestierte sich auch in der Arbeitsgemeinschaft „Die Alte Stadt“, deren gleichnamige Zeitschrift er mit herausgab. In den 1990er Jahren weitete sich sein stadtgeschichtlicher Fokus global, richtete sich mit einem Forschungsprojekt zu historischen Innenstädten und deren Bewahrung und Erneuerung auch auf die zu dieser Zeit boomende Region Südostasien.
Neben der Stadtgeschichte galt sein besonderes Interesse den Beziehungen von Technik und Gesellschaft in historischer und aktueller Hinsicht, Themen, die dauerhaft auch das Profil des Instituts für Geschichte prägen. So verdankt das ‚Haus für Industriekultur‘ in Darmstadt seine Entstehung Helmut Böhmes unermüdlichem Einsatz für den Erhalt historischer Technologien und Wissensschätze insbesondere im Bereich der Druck- und Satztechnik. Über seine Emeritierung hinaus war Böhme auch als Mit-Herausgeber der am Darmstädter Institut redigierten renommierten Rezensionszeitschrift „Neue politische Literatur“ engagiert.
Mut zu Interdisziplinarität
Helmut Böhmes Plädoyer für interdisziplinäre Zusammenarbeit in Forschung und Lehre während seiner Präsidentschaft wie auch wieder im Rahmen des Instituts für Geschichte von 1995 bis 2004 hat im Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften fruchtbaren Niederschlag gefunden, etwa mit den Graduiertenkollegs „Technisierung und Gesellschaft“ und „Topologie der Technik“ sowie im Forschungsschwerpunkt „Stadtforschung“.
Faszinierender akademischer Lehrer
Helmut Böhme war ein begeisternder akademischer Lehrer, der Studierende wie zahlreiche Gasthörer in seinen Vorlesungen faszinieren und insbesondere auf Exkursionen mit seiner lebendigen und mitreißenden Vermittlung historischer Sachverhalte für die Geschichte gewinnen konnte. Häufiger führten diese Exkursionen in Regionen Mittel- und Osteuropas, die vielen Deutschen lange eher unbekannt waren. Dieses Interesse entsprang Böhmes Selbstverständnis als ‚homo politicus‘. Als überzeugter Europäer hat er immer wieder Gesprächsfäden geknüpft und Brücken gebaut, um alte Feindschaften und Vorurteile zu überwinden. Ungezählte Freundschaften zu Kolleginnen und Kollegen in Osteuropa und eine Vielzahl ehrender Anerkennungen aus dieser Region bezeugen die Wertschätzung dieses lebenslangen Engagements.
Wir verlieren einen leidenschaftlichen Historiker und großen Anreger. Das Institut für Geschichte wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren.