Wikileaks – Innere Widersprüche einer Idee

Professor Kay Hamacher, Bioinformatiker der TU Darmstadt, im Gespräch

17.07.2012 von

Kay Hamacher, Professor für Computational Biology and Simulation an den Fachbereichen Biologie, Informatik und Physik der TU Darmstadt, hat mit Methoden der mathematischen Modellierung das Konzept von Wikileaks analysiert und wissenschaftlich hinterfragt.

Prof. Dr. Kay Hamacher. Bild: privat

Herr Hamacher, Sie haben mit den Methoden der mathematischen Modellierung das Konzept von Wikileaks analysiert und wissenschaftlich hinterfragt. Wie lässt sich das Ergebnis zusammenfassen?

Man muss zunächst feststellen, dass die Motivation Assanges nach seinen eigenen Angaben nicht nur im Whistleblowing, also im Aufdecken von Missständen liegt, sondern im Leaking. Letzteres bezeichnet dabei das unauthorisierte Veröffentlichen von Informationen, die nicht zur Publikation vorgesehen waren. Nun geht Julian Assange davon aus, dass Leaking moralisch verwerflichen Gruppen in der Gesellschaft beziehungsweise Gruppen oder Personen, die unmoralisch handeln, schadet. Und zwar mehr schadet als gerecht handelnden Gruppen. Er betrachtet demnach das Offenlegen von Informationen als wirkungsvolle Waffe gegen ‚Ungerechtigkeit’. Diesem Gedankengebäude von Assange liegt eine Art simplifizierter Biologismus zugrunde, der – wie wir aus der fragwürdigen ‚Argumentation’ von Kreationisten schon wissen – meistens zu kurz greift.

Was kann man unter Biologismus verstehen?

Der Biologismus versucht, sowohl menschliche Verhaltensweisen als auch gesellschaftliche Zusammenhänge vor allem durch biologische Gesetzmäßigkeiten zu erklären. Übertragen auf soziale Institutionen und Normen geht Assange vereinfacht ausgedrückt davon aus, dass das Offenlegen von Informationen den Bösen schadet und den Guten nutzt oder sie zumindest weniger schädigt. Leaking führt daher seiner Meinung nach langfristig dazu, dass die Gerechtigkeit siegen wird, da sie einen ‚Evolutionsvorteil’ hat.

Ich halte das für zu kurz gedacht, für simplifiziert. Assange lässt in seiner Theorie nämlich Rückkopplungseffekte, sogenanntes Feedback, unberücksichtigt, wie wir sie eben gerade in der Evolution finden. Sie wirken sich langfristig auf die Entwicklung von Arten aus, im übertragenen Sinn wären das die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, und zwar alle, die „guten“ genauso wie die „schlechten“.

Inwiefern kann Wikileaks die „Evolution“ von gesellschaftlichen Gruppen verändern?

Eben durch den Effekt der Rückkopplung. Die Enthüllung von interner Kommunikation wirkt sich längerfristig sowohl auf die interne als auch die externe Kommunikation von Gruppen aus, und zwar nicht nur auf die von „ungerechten“ Gruppen. Nach der Veröffentlichung der „diplomatic cables“ von Wikileaks hat die US-Regierung ihre interne Kommunikation neu organisiert, Dokumentationen werden reduziert. Das Ergebnis ist sinkende Transparenz auch für den Bürger. Die externe Kommunikation wird ohnehin durch eine Art Paranoia bezüglich des allgegenwärtigen Leakings beeinflusst, es kommt einer Art Selbstzensur gleich. Und davon sind auch die „gerechten“ Gruppen nicht frei. Damit schwächt Leaking beziehungsweise das unauthorisierte und schrankenlose Offenlegen von Informationen auf Dauer nicht nur die „ungerechten“ Gruppen.

Wie genau schadet also Leaking den Guten?

Nun ja; es gilt eben immer „gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht“. Bevor man solche „policies“ oder meinetwegen auch Ideologien anwendet, sollte man sie zunächst auf Konsistenz überprüfen. Da aber bei komplexen Systemen immer Rückkopplungen und Nicht-Linearitäten auftreten, sind solche Analysen sehr schwierig. Wir arbeiten intensiv daran, solche Evaluationen und Verifikationen mittels sogenannter agenten-basierter Simulationen zu ermöglichen – und damit die diffizilen Rückkopplungen gedanklich fassbar zu machen. Ein anderes Beispiel, auf welches wir unsere Methodiken angewandt haben und zu überraschenden Ergebnissen gekommen sind, ist zum Beispiel die derzeit einmal mehr diskutierte Vorratsdatenspeicherung. Auch hier zeigen sich komplexere Effekte, die nur schwer direkt zu durchschauen sind. Mathematische Modellierung kann da helfen.