Geschlechtliche Vielfalt aus theologischer Sicht

Gerhard Schreiber hat innerhalb der Evangelischen Kirche Denkanstöße ausgelöst

11.01.2017 von

Gerhard Schreiber ist an der TU Darmstadt eine Ausnahme. Seit drei Monaten ist der 38-Jährige Akademischer Rat am Institut für Theologie und Sozialethik und der einzige evangelische Theologe, der an der Universität lehrt. Ungewöhnlich ist auch sein aktuelles Forschungsgebiet: Schreiber engagiert sich für die Akzeptanz und Inklusion transsexueller Menschen in Kirche und Gesellschaft.

Dr. Gerhard Schreiber. Bild: Ralf Stieber / Ev. Akademie Baden
Dr. Gerhard Schreiber. Bild: Ralf Stieber / Ev. Akademie Baden

Theologie und sexuelle Vielfalt, das war und bleibt ein nicht immer spannungsfreies Thema in Religion und Kirche. Für Fragen an diesen ethischen Schnittstellen hat sich Gerhard Schreiber jedoch immer schon interessiert: Todesstrafe, Suizid oder Sexualität und welche Antworten die Theologie darauf geben kann – damit hat sich der junge Wissenschaftler seit seinem Studium befasst.

Sein aktuelles Engagement gilt der geschlechtlichen Vielfalt in der Theologie und den Menschen, die sich als transident oder transsexuell bezeichnen. In allen Kulturen, sagt Schreiber, werden Menschen in weiblich und männlich unterschieden. Ausschlaggebend für die Geschlechtszuschreibung ist in erster Linie der Körper. Doch was ist, wenn die Selbstwahrnehmung eines Menschen von dem ihm bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht abweicht und er sich wie „im falschen Körper“ fühlt? Wie geht die Gesellschaft, wie gehen Religion und Kirche damit um? „Was mache ich als Pfarrer, wenn sich transsexuelle Menschen mit dem Wunsch nach Trauung oder Taufe an mich wenden?“

Wahrnehmung der Vielfalt der Schöpfung

Für Gerhard Schreiber waren diese Fragen wie ein Weckruf. Ihm geht es um die Wahrnehmung der Vielfalt der Schöpfung, um gesellschaftliche, theologische und staatliche Akzeptanz. Bisher, berichtet er, müssten sich Betroffene für eine Vornamens- und Personenstandsänderung als psychisch krank begutachten lassen. Unbeeindruckt vom aktuellen Stand der Forschung werde Transsexualität oder Transidentität offiziell immer noch als Störung der Geschlechtsidentität und als Krankheit behandelt. Betroffene fühlten sich fremdbestimmt und diskriminiert.

Der Theologe, der vor seinem Wechsel an die TU Darmstadt wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systemische Theologie und Religionsphilosophie an der Frankfurter Goethe-Universität war, wurde aktiv. Er nahm Kontakt zur Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau (EKHN) auf, „weil es bisher keine Stellungnahme der evangelischen Kirche zu diesem Thema gab“. EKHN-Kirchenpräsident Volker Jung habe prompt und offen reagiert, freut sich der Wissenschaftler.

Schreiber organisierte Anfang 2016 in Frankfurt den ersten internationalen und interdisziplinären Kongress zum Thema „Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften“. Unter den 220 Teilnehmenden waren neben Betroffenen, Vertreterinnen und Vertretern der Neuro-, Bio- und Rechtswissenschaften auch Theologinnen und Theologen – und Kirchenpräsident Jung als Redner. Es war die erste Tagung dieser Art und ein Erfolg. Unterdessen hat die EKHN eine Fachgruppe zum Thema eingesetzt, Betroffenenorganisationen haben sich gemeldet und ein von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. organisiertes Interview- und Filmprojekt anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 ist in Zusammenarbeit mit dem Bundesfamilienministerium entstanden, das kurz vor dem Abschluss steht.

Im November 2016 hat sich in Darmstadt zudem die „Deutsche Gesellschaft für Health Consumer Ethics“ (DGHCE) gegründet, die die Förderung von Wissenschaft und Forschung auf dem Gebiet der evidenzbasierten, patienten- und gesundheitsorientierten Medizinethik zum Ziel hat. Ihr Vorsitzender: Gerhard Schreiber. Entstehen soll auch eine Wissens-, Kommunikations- und Ethik-Plattform zum Thema Transsexualität. An der TU Darmstadt, sagt der promovierte Theologie, wird sein Engagement offen aufgenommen. Schreiber lehrt im Studiengang Evangelische Religion für das Lehramt an beruflichen Schulen. „Hier zu arbeiten ist ideal. Ich treffe auf sehr interessierte Studierende.“