Alle Generationen unter einem Dach

Interdisziplinäre KIVA-Projektwoche macht Studierende zu Projektentwicklern

26.09.2017 von

Wie wirkt sich der demografische Wandel in Deutschland auf das Wohnen aus? Dieser Frage gingen eine Woche lang Studierende des Wirtschaftsingenieurwesens mit den technischen Fachrichtungen Maschinenbau und Elektro- und Informationstechnik sowie der Soziologie und der Philosophie nach. Gemeinsam sollten sie ein stimmiges und tragfähiges Wohnkonzept für ein Haus entwickeln, in dem alle Generationen zusammen leben.

Die Bevölkerung in Deutschland wandelt sich: die Einwohnerzahl wird in den nächsten Jahren deutlich abnehmen, während gleichzeitig der Anteil der älteren Menschen, der Kranken und Pflegebedürftigen steigt. Immer mehr Menschen leben unabhängig von Familienstrukturen und zunehmend in kleineren Wohneinheiten, wobei eine Konzentration auf Städte zu beobachten ist. Zwar nimmt parallel dazu die Zuwanderung aus anderen Ländern und Kulturen zu, der Prozess der Schrumpfung und Überalterung der Bevölkerung wird dadurch aber nicht aufgehoben. Diese Veränderungen bergen viele Herausforderungen, die sich auch auf die Art des Wohnens auswirken.

In den großen Städten ist der Wohnraum schon jetzt knapp und teuer. Die Anpassung der Wohnquartiere an die neuen Anforderungen geht daher nur langsam voran und bremst den Versuch, neue Arten des Zusammenlebens auszuprobieren, zusätzlich aus. Hier kommen die Studierenden ins Spiel: In interdisziplinärer Zusammenarbeit sollten sie sich in der KIVA-Projektwoche unter der Leitung von Prof. Dr. Andreas Pfnür, Fachgebiet Immobilienwirtschaft und Baubetriebswirtschaftslehre des Fachbereichs Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in die Rolle von Projektentwicklern versetzen, die für einen genossenschaftlichen Verein oder ein gewinnorientiertes Unternehmen ein Haus entwerfen, in dem circa 30 Personen aus allen Generationen unter einem Dach leben. Ein Grundstück und Startkapital in Höhe von fünf Millionen Euro sind vorhanden. Das zu planende Objekt soll eine Laufzeit von mindestens 30 Jahren aufweisen und langfristig profitabel arbeiten.

14 Gruppen mussten sich zur Lösung der Aufgabe mit grundlegenden Fragen auseinandersetzen: Wer ist die Zielgruppe für eine solche Wohnform? Wird externes Fachpersonal benötigt? Wie werden die Entscheidungen im Haus getroffen? Zwar gilt gemeinschaftliches Wohnen in zum Teil familienähnlichen Strukturen als ein Trend, dennoch mussten schon im Vorfeld potentielle Konfliktsituationen zwischen den Bewohnern erfasst werden. Bedürfnisse Einzelner waren abzuwägen gegen die der Gruppe. Außerdem hatten die Studierenden zu klären, welches Konzept das Haus möglichst dauerhaft zusammenhalten soll. Und auch die Frage, welcher Grad der technischen Überwachung zugelassen werden soll, um ein Gefühl der Sicherheit, aber nicht der Überwachung zu bieten, spielte bei der Planung eine entscheidende Rolle.

Unterstützt wurden die Teams von Fach- und Teamtutoren, am Helpdesk sowie externen Experten, die helfen sollen, die komplexe Aufgabe in der Kürze der Zeit zu bewältigen.

Das Treppchen

Aus der Projektausarbeitung: „Unser Konzept soll eine integrative und kulturelle Solidaritätsgemeinschaft sein. Dies wird unterstützt durch eine innovative Technik, die Integrationsmaßnahmen schafft und Vereinsamung entgegenwirkt. Eine nicht nur zweckgerichtete Gemeinschaft entsteht in dem Projekt „Frohe Zukunft“ durch eine gemeinschaftliche Etage, wo diversen Aktivitäten nachgegangen werden kann (Ruhe- und Arbeitsraum, Bewegungs- und Aufenthaltsraum, Spielzimmer) und Wohnetagen, wo sich jeweils zwei Vierer-Wohngemeinschaften eine Küche und Wohnzimmer teilen. Dadurch soll Integration und Gemeinschaft entstehen. Zusätzlich sollen diese gefördert werden durch ein dreistufiges Digitalisierungskonzept.

Das ökologisch nachhaltige Cloud & Heat-Konzept sorgt für eine hohe CO2-Einsparung, die sich in den Nebenkosten positiv zugute schlägt. Gleichzeitig bieten die Computer das Herz für ein innovatives und intelligentes Smart-Home-Konzept. In der dritten Stufe wird der Wohnalltag durch einen Serviceroboter des Modells “Pepper“ ergänzt. Trotz generationsbedingten Einschränkungen kann so die Selbstständigkeit gewährleistet werden mit hohem Freiheitsgrad.“

Aus der Projektausarbeitung: „Hilf’S² liefert das Konzept zu einem generationsübergreifenden Wohnprojekt, in dem Studenten und Senioren ab Rentenalter gemeinsam in zwei nachhaltig erbauten Passivhäusern wohnen. Das Konzept ist für eine Genossenschaft entworfen, die eine Werteeinstellung vertritt, welche das Gemeinwohl über Profit stellt. Die Wohnanlage besteht aus zwei viergeschossigen Passivhäusern, die jeweils über eine Photovoltaikanlage und einen Gemeinschaftsraum pro Etage verfügen, sowie barrierefrei ausgerichtet sind. Auf jeder Etage befinden sich 4 Wohneinheiten à 20m², die auf Wunsch auch zusammengelegt werden können. Daraus ergeben sich 16 Einzel- und 7 Doppelwohneinheiten, die für 30 Personen ausgelegt sind.

Alle Anwohner gründen einen Verein, dessen Mitgliedschaft gleichzeitig Voraussetzung ist. Dem Verein liegt eine Satzung zugrunde, welche die Organisation der Verwaltung und die Kommunikationswege regelt. Ein Zweck des Vereins ist die Förderung von bezahlbarem und sozialem Wohnraum für Senioren und Studenten, sowie Überwindung der Vereinsamung und der Entfremdung der Generationen. Ein wichtiger Anreiz ist der finanzielle Aspekt. Mietpreise orientieren sich dabei an der Grundsicherung für Rentner und dem BaFöG-Satz für Studierende und sind somit für die Zielgruppen erschwinglich.

Die Gemeinschaft der Anwohner geht ein Bonusprogramm ein, welches jeden einen festgelegten Beitrag zum allgemeinen Aufgabenspektrum leisten lässt. Hierbei gilt der Grundsatz: 1h Arbeitskraft/m² Wohnraum. Dadurch wird eine Kostenersparnis erreicht, welches die Mietpreise konstant bleiben lässt.

Einen sozialen Anreiz bietet der Generationenaustausch zwischen Alt und Jung. Dieser mindert den Verlust der Selbstständigkeit von Senioren und bietet jungen Leuten eine Hilfe beim Einstieg in ihr selbstständiges Leben. Um den Alltag der Bewohner zu erleichtern, gehen wir Kooperationen mit diversen Partnern ein. Selbstinitiierte, regelmäßige Arbeitsgruppen dienen zur Förderung eines gemeinschaftlichen Miteinanders. Dadurch entsteht eine Gemeinschaft, die gegenseitige Hilfe und Rücksichtnahme unter einem Dach vereint.“

Aus der Projektausarbeitung: „Das Projekt des Mehrgenerationenhauses basiert auf der Rechtsform einer Genossenschaft. Zur Gründung einer Genossenschaft ist kein Mindestkapital erforderlich. Eine Satzung muss bereits vor der Gründung und Anmeldung der Genossenschaft ausgearbeitet werden. Vorstand, Aufsichtsrat und Generalversammlung sind notwendige Organe. Um den unterschiedlichen finanziellen Lagen der potenziellen Bewohner gerecht zu werden sind unterschiedlich hohe Anteile zu erwerben, um als Mitglied der Genossenschaft im Haus leben zu können. Ein Anteil an der Genossenschaft berechtigt zu lebenslangem Wohnrecht. Da Abstimmungen demokratisch stattfinden, können die Bewohner aktiv an Entscheidungen teilhaben und so ihre Wohnsituation mitbestimmen. Im Rahmen des Datenschutzes sind Angaben zur Identitätsermittlung verpflichtend. Die Genossenschaft ist gleichzeitig Eigentümer des Mehrgenerationenhauses. Dadurch entsteht Sicherheit hinsichtlich Kosten und Wohnraum. Da eine Gewinngenerierung nicht zwingend ist, fördert das Mehrgenerationenhaus das Gemeinwohl. Bereits existierende Projekte dieser Art werden zum größten Teil durch Genossenschaften betrieben, was darauf schließen lässt, dass dies die bewährteste Form ist. Von besonderer Wichtigkeit ist kaufmännisches Wissen, da eine Buchführung verpflichtend ist.“

Interdisziplinäre Projekte in der Studieneingangsphase

Mit ihren interdisziplinären Projekten in der Studieneingangsphase hat die TU Darmstadt vor Jahren bundesweit Maßstäbe gesetzt. Was in den 1970er Jahren in den Fachbereichen Bau- und Umweltingenieurwissenschaften und Maschinenbau begann, wurde im Rahmen von KIVA und dem Folgeprojekt KI²VA nahezu flächendeckend an der TU Darmstadt eingeführt: interdisziplinäre Studienprojekte in den ersten drei Semestern. KI²VA ist ein im Rahmen des Qualitätspakts Lehre, durch das BMBF gefördertes Projekt und steht für „Kompetenzentwicklung durch Interdisziplinäre und Internationale Vernetzung von Anfang an“.

Im Kalenderjahr 2017 werden sieben Projekte mit rund 2300 Studierenden in der Studieneingangsphase durchgeführt. Sie erarbeiten in fächerübergreifend gemischten Teams Lösungskonzepte für komplexe, praxisnahe Aufgaben – intensiv betreut von Lehrkräften und versierten Fach- und Teamtutorinnen und -tutoren. Wie später im Berufsleben müssen die Studierenden Brücken zwischen Fächern mit oft ganz unterschiedlichen Anforderungen, Vokabular oder Arbeitsweisen schlagen. Erfahrungen aus den Vorjahren haben gezeigt, dass sowohl soziale Kompetenzen als auch die Motivation für das Studium gestärkt werden: Die Studierenden erhalten Einblick in grundlegende Methoden ihres Faches sowie die Arbeitsweise anderer Fächer. Sie erleben sich als kompetente Vertreter ihrer Disziplin und stärken dadurch ihre Identifikation mit dem Fach und ihre Motivation für das Studium. Die Studierenden lernen, Aufgaben strukturiert und systematisch zu bearbeiten, unvorhergesehene Probleme selbstständig anzugehen und aktiv Verantwortung zu übernehmen. Sie verbessern ihre kommunikativen und sozialen Fähigkeiten.