Unterricht am Puls der Zeit

Technik-Didaktiker der TU unterstützen Berufsschulen bei der Digitalisierung

26.03.2018 von

Die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt grundlegend und stellt auch die Berufsschulen vor neue Herausforderungen. Technikdidaktiker der TU Darmstadt unterstützen sie auf dem Weg in die Zukunft.

Professor Ralf Tenberg. Bild: Katrin Binner

Wer den modernen, hellen Raum betritt, gelangt in ein Industrie 4.0-Szenario. Acht Module stehen hier für den neuen Unterricht „am Puls der Zeit“ zur Verfügung, darunter ein digital gesteuertes Hochregallager, eine Robotermontagestation, eine automatisierte CNC-Fräse und eine Station für die kameragesteuerte Qualitätskontrolle – typische Bestandteile, die in einer Fabrik miteinander verkettetet sind. Ein intelligentes Muster-Werkstück durchläuft die Produktion und bringt die Informationen für seine Fertigung selbst mit. Schüler und Lehrer diskutieren gerade darüber, wie man Prozesse weiter verbessern könnte.

Es ist eine „Smart Factory“ im Maßstab eins zu eins, die an der Philipp-Matthäus-Hahn-Schule (PMHS) im baden-württembergischen Balingen zum Schuljahr 2017/2018 an den Start gegangen ist. Sie ist Teil der Lernfabrik 4.0, zu der unter anderem auch ein Mechatronik-Labor gehört, in dem die Berufsschüler sich die Grundlagen für speicherprogrammierte Steuerungen aneignen und automatisierte Prozesse am Tablet simulieren können. Das Berufsschulzentrum auf der Schwäbischen Alb hat sich im Unterricht von einem „weiter wie gehabt“ verabschiedet.

Im Rahmen des Projektes „Digitalisierung und berufliche Bildung“ begleiten Experten für Technikdidaktik der TU Darmstadt die Schule dabei. „Wir wollen einen Startpunkt setzen für eine neue Art des Lernens und der Kooperation mit den Ausbildungsbetrieben“, sagen Heiko Käppel und Markus Häusel. Die beiden gelernten Ingenieure und Berufschullehrer treiben an der PMHS Lernfabrik und Projekt voran. Sie wollen den Nachwuchs vertraut machen mit der digitalen Arbeitswelt, mit deren schnellen Innovationen und der immer kürzer werdenden Halbwertzeit für Wissen – ohne dabei die starken Grundlagen aus der analogen Ausbildung über Bord zu werfen.

Was junge Menschen heute in technischen Berufen erwartet, beschreibt der Leiter des Arbeitsbereichs Technikdidaktik der TU Darmstadt, Professor Ralf Tenberg, so: „Die Rolle der Facharbeiter verschiebt sich aus dem Zentrum der Systeme hinter diese“. Sie stünden einer extrem komplexen Technik gegenüber und entwickelten sich mehr und mehr zu Wissensarbeitern. Zugänge zu Maschinen würden immer weniger unmittelbar operativ, stattdessen zunehmend sensorisch, analytisch und diagnostisch. „Wir bilden praktisch in eine Vision hinein aus“, sagt der Experte.

In der prosperierenden Region rund um die PMHS setzen Betriebe zunehmend auf Vollautomatisierung. Sie brauchen Menschen mit soliden technischen Kenntnissen, aber eben auch mit Methoden-, Personal- und Sozialkompetenz. Einarbeitungszeiten von einem halben Jahr könne sich ein Betrieb heute nicht mehr leisten, weiß der gelernte Mechatroniker Mikel Weisser, der am Berufsschulzentrum gerade eine Weiterbildung zum staatlich geprüften Automatisierungs-Techniker absolviert. Im Rahmen seiner dualen Ausbildung ist der 22jährige mit dem Thema „Industrie 4.0“ kaum in Berührung gekommen. Umso mehr wissen er und seine Mitschüler nun die hochkarätige Ausstattung an der PMHS zu schätzen. Denn die praktischen Erfahrungen, die sie hier im Rahmen eines industrienahen „learning by doing“ sammeln können, bieten ihnen einen immensen Startvorteil im späteren Beruf. Doch das Equipment allein reicht nicht aus. Ohne neue didaktische Konzepte und Veränderungen in der Schulorganisation kommt es nicht zum Tragen.

Theorie und Praxis verzahnen

Lernfabrik in der Berufsschule: Neue Lernprozesse lösen alte Lehrformate ab. Bild: Christoph Jäckle
Lernfabrik in der Berufsschule: Neue Lernprozesse lösen alte Lehrformate ab. Bild: Christoph Jäckle

„Wir müssen anders unterrichten“, sagen die beiden Projektbetreuer. Sie versuchen deswegen in einem ganzheitlichen Ansatz nicht nur Theorie und Praxis besser zu verzahnen, sondern auch Grundwissen, Simulationen und die Umsetzung des Gelernten an Maschinen und Anlagen integriert zu vermitteln.

Ziel ist es zudem, das Zusammenspiel zwischen Schülern, Lehrern und Ausbildern über eine kollaborative digitale Plattform zu verbessern. So soll ein „echter“ Wissenstransfer zwischen Schule und Betrieben einerseits, aber auch unter den Betrieben gefördert werden.

Es ist ein ambitioniertes Vorhaben, das vor allem auch mit Blick auf Unsicherheiten und Vorbehalte innerhalb des Kollegiums der Moderation und des Coachings bedarf. Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung unterstützen Ralf Tenberg und Dr. Detlef Messerschmidt die Schule auf allen relevanten Ebenen. Die Darmstädter Experten unterstützen die Weiterentwicklung der didaktisch-methodischen Konzepte für den Unterricht, fördern das Teambuilding unter den Lehrern, bauen neue Kooperationsformen zwischen den Lernorten mit auf und begleiten auch die notwendige Weiterentwicklung der Schulorganisation. „Wir machen hier klassisches Change Management“, erklärt Tenberg. „Unser Ziel ist es, dass die Akteure den Wandel von Technik und Arbeitswelt zu ihrem eigenen Wandel machen.“

Die fundierte Analyse und Evaluation durch die Wissenschaftler stellt eine nachhaltige Gestaltung sicher – auch über das Projektende hinaus. Die PMHS ist derzeit auf gutem Wege. Das zeigt allein ein Blick in das Lernfeld „Prozessoptimierung“. Wurden hier bislang 16 Schüler gleichzeitig an einem alten Fünf-Achs-Roboter „beschult“ und lernten allenfalls einfache Programmierschritte, so öffnet sich für die angehenden Industriemechaniker jetzt die Welt der Robotik. An zwei Modulen der Lernfabrik oder am digitalen Zwilling der Maschinen können sie konkrete Handlungsprobleme durchspielen oder simulieren, Lösungen zur Prozessoptimierung entwickeln und diese perspektivisch über die kollaborative Plattform „Moodle“ direkt mit ihren Ausbildungsbetrieben rückkoppeln.

„Mit Hilfe der wissenschaftlichen Begleitung könnte hier ein Leuchtturmprojekt für die Schulentwicklung entstehen“, glauben Käppel und Häusel. Ralf Tenberg richtet seinen Blick aber über die Berufsschullandschaft hinaus. Zwar ist die Technikdidaktik insgesamt seit seinem Start an der TU Darmstadt vor neun Jahren im Zuge der digitalen Transformation und der Debatte um Industrie 4.0 inzwischen zu einer anerkannten Wissenschaftsrichtung avanciert. In den allgemeinen Schulen jedoch sieht der Experte nach wie vor großen Handlungsbedarf. Seine Vision: Technik als Pflichtfach vom Kindergarten bis in alle Bildungsbereiche.

Technikdidaktik an der TU Darmstadt

Der Arbeitsbereich Technikdidaktik im Fachbereich Humanwissenschaften führt öffentlich geförderte Forschungs- und Entwicklungsprojekte durch. Gegenwärtig begleitet er unter anderem das Projekt „Digitalisierung in der beruflichen Bildung“ des Landes Baden-Württemberg, das Projekt „Digitalisierung in der beruflichenBildung“ des Landes Hessen, den Modellversuch „Nachhaltigkeitsaudits in der Berufsausbildung“ des Bundesinstituts für Berufsbildung und den hessischen Schulversuch „Berufsfachschule zum Übergang in Ausbildung“.

Der Arbeitsbereich verfügt über ein neues Lern-Lehr-Labor, das Theorie und Praxis verzahnt und angehenden Berufsschullehrkräften eine innovative Lernumgebung bietet.

Philipp-Matthäus-Hahn-Schule

Die Philipp-Matthäus-Hahn-Schule (PMHS) mit rund 2.500 Schülerinnen und Schülern ist das gewerbliche Schulzentrum des Zollernalbkreises. Zum Schuljahr 2016/2017 startete hier eine von landesweit 16 „Lernfabriken 4.0“. Diese werden ebenso vom Land Baden-Württemberg gefördert wie das laufende Projekt „Digitalisierung in der beruflichen Bildung“. Beteiligt sind zwei Pilotklassen der PMHS – angehende Mechatroniker im 2. Ausbildungsjahr und künftige Industriemechaniker im 3. Ausbildungsjahr.

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