Die Größe der Demokratie

Warum die EU den Nationalstaat nicht vorschnell verabschieden sollte

10.05.2019 von

Hat sich die Europäische Union in ihrem Wachstum übernommen? Ist ihr demokratischer Wertekanon erschöpft? Dirk Jörke, Professor für Politikwissenschaft an der TU Darmstadt, rät in einer Analyse des aktuellen Zustands der Gemeinschaft dazu, jenseits dringend notwendiger multilateraler Kooperation wirtschafts- und finanzpolitische Kompetenzen wieder auf die Ebene der Nationalstaaten zu verlagern, um so die Demokratie „wiederzubeleben“. Der Beitrag im Wortlaut.

Professor Dirk Jörke. Bild: Claus Völker

Die Europäische Union steckt in einer tiefen Krise. Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte und kulturellen Konflikte zwischen Nord- und Süd-, West- und Osteuropa haben sich in den vergangenen Jahren verstärkt und rechtspopulistische Kräfte sind in nahezu allen Staaten Europas auf dem Vormarsch. Eine grundlegende Reform der europäischen Strukturen, wie sie etwa von Emmanuel Macron gefordert wurde, aber auch die von vielen Intellektuellen herbeigesehnte „Demokratisierung“ der supranationalen Institutionen, scheitern an den vielfältigen Interessengegensätzen. All das, so meine These, hat viel mit der Größe der Europäischen Union zu tun.

Heterogenität durch Wachstum

Die Römischen Verträge von 1957 unterzeichneten sechs Staaten. Mittlerweile, nach insgesamt sieben Erweiterungsrunden, gibt es 28 Mitgliedsstaaten. Betrug die Gesamtbevölkerung der Gründungsmitglieder im Jahr 1957 ca. 168 (aktuell 236) Millionen, so sind es mit Blick auf die gesamte Europäische Union heute 512 Millionen. Auch räumlich ist es zu einer erheblichen Vergrößerung gekommen, nämlich von ca. 1.178.000 auf 4.381.324 Quadratkilometer. Schließlich stieg die Zahl der Amtssprachen von sechs auf 24. All das stellt die Europäische Union vor erhebliche Herausforderungen und ist ein zentraler Grund dafür, dass sie sich nicht demokratisieren lässt. Doch nicht nur dies; die mit der zunehmenden Größe ebenfalls gewachsene Heterogenität des europäischen Wirtschafts- und Kulturraumes ist auch wesentliche Ursache für die seit gut drei Jahrzehnten zu beobachtenden negativen Auswirkungen der Europäischen Union auf den Zustand der Demokratie.

Enger Spielraum für eigenständige Agenda

Die integrationsfreundlichen Maßnahmen der vergangenen 30 Jahre konnten sich auf das „Primärrecht“ stützen, das zunehmend expansiv ausgelegt wurde. Als solches werden jene inhaltlichen Bestimmungen bezeichnet, die in den Verträgen der Europäischen Union festgehalten sind. Hier erfolgt ein entpolitisierter Modus der Durchsetzung der europäischen Grundfreiheiten für Waren, Dienstleitungen, Kapital und Personen. Die durch die Kommission und den Europäischen Gerichtshof betriebenen Maßnahmen einer „negativen Integration“ (Scharpf), worunter vor allem der Abbau von „Wettbewerbsverzerrungen“ fällt, haben einen wirtschaftspolitischen Rahmen erzeugt, der den gewählten Vertretern auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene kaum noch Spielraum für die Verfolgung einer eigenständigen Agenda lässt, etwa hinsichtlich der Subventionierung einheimischer Industrien oder der Bevorzugung lokaler Anbieter bei öffentlichen Ausschreibungen. Ausschlaggebend ist namentlich die sehr integrationsfreundliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, durch die immer mehr Politikfelder der nationalstaatlichen Gesetzgebung, aber auch des Verwaltungshandelns entzogen wurden.

Die Europäisierung vieler Politikbereiche und nicht zuletzt der Wirtschafts- und Finanzpolitik hat den Handlungsspielraum demokratischer gewählter Regierungen mithin stark eingeschränkt, insbesondere in den sogenannten Schuldnerländern im Süden der Europäischen Union. Jüngstes Beispiel hierfür ist der Konflikt zwischen der demokratisch legitimierten Regierung Italiens und der Europäischen Kommission im Herbst 2018. Die Kommission, die im Rahmen des Euroregimes über eine Art Oberaufsicht über die nationalen Haushaltspläne verfügt, wies den von der Koalition aus Movimento Cinque Stelle und Lega vorgelegten Entwurf aufgrund der dort vorgesehen Neuverschuldung, die zur Finanzierung sozialer Wahlversprechen dienen sollte, zurück. Die europäischen Finanzpolitiker befürchteten, dass eine höhere Neuverschuldung den Euro zu sehr unter Druck setzen würde. Die Kommission folgte ganz offensichtlich mehr dem internationalen „Marktvolk“ als dem italienischen „Staatsvolk“. Der Konflikt konnte zumindest kurzfristig durch einen Kompromiss aufgelöst werden, die weitere Entwicklung ist jedoch offen. Doch wie immer die weitere Entwicklung in diesem Fall aussehen wird, mit demokratischen Grundsätzen, bei aller inhaltlichen Kritik an der gegenwärtigen italienischen Regierung, ist diese Praxis nicht vereinbar.

Hohe Konsensschwellen

Eine positive Integrationspolitik, etwa mit Blick auf die Vereinheitlichung der Steuersätze oder der Etablierung eines europäischen Sozialstaates, ist aufgrund der hierfür erforderlichen Einstimmigkeit im Europäischen Rat hingegen lediglich marginal ausgebildet. Gleiches gilt für eine europaweite einheitliche Steuerpolitik oder eine wirksame Bekämpfung von Steuerschlupflöchern. Auch die seit dem Ausbruch der Finanzkrise selbst von führenden Politikern geforderte europäische Finanztransaktionssteuer ist bis heute eben sowenig zustande gekommen wie die sogenannte Digitalsteuer. Ursächlich hierfür sind die hohen Konsensschwellen.

Keine politische Gemeinschaft, kein gemeinsamer Bedeutungsraum

Doch was haben all diese von vielen Autoren vielfältig diskutierten demokratieschädlichen Effekte der Supranationalisierung mit der Frage der Größe zu tun? Wie in der Vergangenheit oftmals beobachtet werden konnte, steht die gewachsene kulturelle, ökonomische und nicht zuletzt auch politische Heterogenität zwischen den Mitgliedsländern einer „positive“ Integrationspolitik im Weg. Und dies gilt nicht nur mit Blick auf wirtschafts- und sozialpolitische Fragen, sondern auch hinsichtlich einer gemeinsamen Wertepolitik, wie sich zuletzt in der Auseinandersetzung über die Verteilung der Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien gezeigt hat. Zu unterschiedlich scheinen die jeweiligen historischen Erfahrungen, politischen Kulturen und Mentalitäten zu sein, als dass etwas Gemeinsames entstehen könnte.

Die Europäische Union ist mithin keine politische Gemeinschaft, die einen gemeinsamen Willen ausgebildet hat, und das gilt insbesondere mit Blick auf die jeweiligen mitgliedsstaatlichen demoi, die sich offensichtlich nicht zu einem gemeinsamen demos vereinigen können und wollen. Ursächlich dafür ist vornehmlich, dass kein gemeinsamer Bedeutungsraum existiert. Die Entwicklung dessen, was man mit einer gewissen Vorsicht als eine europäische Identität bezeichnen könnte, ist größtenteils auf akademische Milieus beschränkt und es gibt wenig Anzeichen, dass sich das zumindest mittelfristig ändern könnte. Auch die Wahlen zum Europäischen Parlament sind weitgehend durch nationalstaatliche Wahrnehmungsmuster geprägt. Kurzum, die Europäische Union ist zu groß für die Ausbildung eigener demokratischer Werte und Praktiken.

Kompetenzen zurückverlagern

Was folgt nun aus dieser Analyse über das Verhältnis von Größe und Demokratie? Sicherlich nicht, dass der erreichte Grad an supranationaler Zusammenarbeit komplett in Frage gestellt werden sollte. Und auch nicht, dass die Idee einer engen Zusammenarbeit zwischen den Nationen nicht überzeugend ist. Im Gegenteil, es steht völlig außer Frage, dass Herausforderungen wie Friedenssicherung, Klimawandel und Migrationsbewegungen nicht an nationalstaatlichen Grenzen halt machen und deshalb hier eine enge internationale Zusammenarbeit, auch im Rahmen von supranationalen Institutionen, dringend geboten ist. Doch sollte man sich erstens von der Illusion verabschieden, diese Institutionen mit einer unmittelbaren demokratischen Legitimation ausstatten zu könnten. Und zweitens ist es zum Zwecke der Wiederbelebung der Demokratie angeraten, insbesondere wirtschafts- und finanzpolitische Kompetenzen wieder auf die Ebene der Nationalstaaten zu verlagern.

Aktuelle Publikation

Die Größe der Demokratie: Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation. Edition Suhrkamp, 2019.

Aus dem Inhalt: Der Konsens über die Einbindung von Nationalstaaten in transnationale Gemeinwesen wie die Europäische Union ist brüchig geworden. Jetzt heißt es oft, Brüssel sei zu weit weg, die Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten hätten kaum Einfluss. Professor Dirk Jörke sichtet Argumente und Befunde zum Zusammenhang zwischen der Größe und der demokratischen Qualität von Staaten. Unter Betonung von Gleichheit und Partizipation der Bürgergesellschaft plädiert Jörke für eine räumliche Begrenzung der Demokratie und den Umbau der EU zu einer Konföderation.