„Schicksalswahl“ der EU

Professorin Michèle Knodt prognostiziert Entwicklungen nach 26. Mai

14.05.2019

In der übernächsten Woche wählen die Bürgerinnen und Bürger der EU ein neues Europaparlament. Es spricht vieles dafür, dass diese Wahl kein Schattendasein führen wird wie schon so viele zuvor. Die Professorin für Politikwissenschaft, Michèle Knodt, erklärt, was diese Wahl für Europa bedeutet und welche Konsequenzen sie für die EU nach sich ziehen könnte. Der Beitrag im Wortlaut.

Prof. Michèle Knodt. Bild: Claus Völker

Die gute Nachricht ist, dass sich die Wahlen zum Europäischen Parlament in diesem Jahr nicht mehr als „Wahl zweiter Ordnung“ generieren werden. Der Wahlkampf zeigt, dass es um die Zukunft Europas geht und nicht mehr lediglich um einen Stimmungstest für nationale Parteien. Politisch kontrovers diskutiert Europa über Migrations- und Klimapolitik, über die Wirtschafts- und Sozialpolitik, über den Brexit und das Auftreten gegenüber den USA, China und Russland.

Die Politisierung platziert den Wahlkampf zum ersten Mal zentral in unseren Medien, die Spitzenkandidaten der beiden größten Fraktionen treten zur besten Sendezeit im öffentlich rechtlichen Fernsehen auf.

Wirbel im Parteiensystem

Der Ausgang der Wahlen zum Europäischen Parlament wird vor allem das europäische Parteiensystem durcheinanderwirbeln. Insgesamt sind dramatische Verluste im Lager der sozialdemokratischen Parteien zu erwarten. Zusammen mit den wahrscheinlichen Verlusten in der konservativen Fraktion EVP wird die bisherige „quasi große Koalition“ der Sozialdemokraten und Konservativen ihre absolute Mehrheit verlieren. Dies wird Folgen für das mit der letzten Wahl eingeführte Spitzenkandidatenverfahren zur Besetzung des Kommissionspräsidenten haben.

In zärtlicher Überdehnung und großzügiger Auslegung der Formulierung im Lissabonner Vertrag, der dem Europäischen Rat auferlegt, den Ausgang der Wahl zum Europäischen Parlament bei der Präsidentenwahl zu „berücksichtigen“ (nicht „maßgeblich“ zu berücksichtigen!), hat sich das Parlament das Recht auf Spitzenkandidaten genommen. Ein nicht unumstrittener Anspruch, der bei deutlichen Wahlverlusten in dieser Runde nicht haltbar sein wird.

Die Kooperation der bisherigen Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) mit der Bewegung La République En Marche (LREM) des französischen Staatspräsidenten Macron wird den Liberalen eine wesentlich wichtigere Stellung im Parlament zukommen lassen. Sie könnten demnächst das Zünglein an der Waage im Gesetzgebungsprozess bilden.

Fragen zur Fraktionsbildung

Am wichtigsten wird die Fähigkeit der EU-skeptischen Parteien zur gemeinsamen Formierung einer Fraktion werden. Dass die EU-Skeptiker enorme Zuwächse verbuchen werden, ist unstrittig. Die moderateste dieser Parteien, die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), stützt sich zu großen Teilen auf die britischen Konservativen. Bei einem Rückzug dieser Abgeordneten nach dem Brexit wird die EKR geschwächt, die mittel- und osteuropäischen Nationalkonservativen werden dann den Kurs bestimmen.

Noch stärker wird der spätere Rückzug der britischen Abgeordneten die EU-skeptische Partei Europa der Freiheit und der Direkten Demokratie (EFDD) treffen. Zurzeit besteht sie zur Hälfte aus den Abgeordneten der UKIP/jetzt „The Brexit Party“ von Nigel Farage. Sie könnte sich nach einem vollzogenen Brexit auflösen. Die stärksten EU-Skeptiker finden sich in der Partei „Europa der Nationen und Freiheit“ (ENF), die neben der Ablehnung der EU rechtspopulistische bis rechtsextreme Positionen vertritt. Sie wird die französischen Rechtsextremen ebenso vereinen wie die AfD und die spanische Vox. Gelingt eine Einigung dieser Parteien, dann könnte diese Fraktion mindestens zur zweitgrößten Kraft im zukünftigen Parlament aufsteigen.

Entscheidungen werden unberechenbarer

Diese prognostizierten Umbrüche im zukünftigen Europäischen Parlament werden kurzfristig Auswirkungen auf die Besetzung der Spitzenpositionen in Europa haben. Außer dem Präsident der Kommission sind unter anderem auch die Ämter der Hohen Vertreterin und des Präsidenten des Europäischen Rates zu besetzen. Langfristig wird es keine klare und stabile Mehrheit im Parlament geben, was die Entscheidungen unberechenbarer macht.

Zudem ist die EU ein konsensbasiertes System, indem die europäischen politischen Parteien und Fraktionen eine wichtige Funktion übernehmen. Gerade die Parteienverbünde der nationalen Parteien tragen zu den auszuhandelnden Konsensstrategien der Mitgliedstaaten bei. Wenn stabile Kommunikationskanäle ins Parlament wegbrechen, wird die zwischenstaatliche Diplomatie wieder wichtiger werden. Das Parlament wird auf lange Sicht seine gemeinschaftsfördernde Wirkung nur eingeschränkt wahrnehmen.