Das Europäische Parlament: Gewinner und Verlierer zugleich

Kommentar zur Europawahl von Professorin Michèle Knodt

27.05.2019 von

Die Bürgerinnen und Bürger haben ein neues Europaparlament gewählt. Zum ersten Mal seit der ersten Direktwahl 1979 hat die Europawahl kein Schattendasein mehr geführt. Professorin Michèle Knodt erklärt, was das Wahlergebnis für die EU bedeutet.

Prof. Michèle Knodt. Bild: Claus Völker

Die gute Nachricht ist, dass die Wahlen zum Europäischen Parlament in diesem Jahr nicht mehr als „Wahl zweiter Ordnung“ zu sehen ist. Der Wahlkampf zeigt, dass es um die Zukunft Europas ging und nicht mehr lediglich um einen Stimmungstest für nationale Parteien. Die hohe Wahlbeteiligung stärkt die Legitimität des Organs. Doch das Ergebnis hat enorme Auswirkungen auf das System der EU.

Der Ausgang der Wahlen hat das Europäische Parlament destabilisiert: Statt einer (quasi) großen Koalition der letzten 40 Jahre wird es wechselnde Mehrheiten geben. EVP und Sozialdemokraten haben durch ihre großen Verluste ihre absolute Mehrheit verloren. Die Liberalen haben wie erwartet stark zugelegt. Die Grünen, die kaum jemand auch auf europäischer Ebene auf dem Schirm hatte, sind ebenfalls stärker geworden.

Im zukünftigen Parlament wird es jedoch weniger auf die Rechts-links-Teilung ankommen, als auf die Konfliktlinie der EU-Befürworter und -Gegner. Wie befürchtet sind die EU-Skeptiker in der Zusammenschau zweitstärkste Kraft geworden. Je nachdem wie die FIDESZ-Partei aus Ungarn über ihren Verbleib in der EVP Fraktion entscheiden wird, könnten die EU-Skeptiker sogar stärkste Kraft im Parlament werden. Es wird jetzt darauf ankommen, ob die EU-skeptischen Parteien in einer Fraktion oder zumindest in loser Koalition zusammenfinden können.

Auswirkungen auf die EU

Das Wahlergebnis wird kurzfristige und langfristige Auswirkungen auf die EU haben. Kurzfristig wird dies Folgen für das mit der letzten Wahl eingeführte Spitzenkandidatenverfahren zur Besetzung des Kommissionspräsidenten haben. In zärtlicher Überdehnung und großzügiger Auslegung der Formulierung im Lissabonner Vertrag, der dem Europäischen Rat auferlegt, den Ausgang der Wahl zum Europäischen Parlament bei der Präsidentenwahl zu „berücksichtigen“ (nicht „maßgeblich“ zu berücksichtigen!), hat sich das Parlament das Recht auf Spitzenkandidaten genommen. Ein nicht unumstrittener Anspruch, der bei dem jetzigen Ergebnis gegenüber den Regierungen nicht haltbar sein wird. Außer dem Präsident der Kommission sind unter anderem auch die Ämter der Hohen Vertreterin und des Präsidenten des Europäischen Rates zu besetzen. Auch hier wird es längere Aushandlungsprozesse geben.

Langfristig wird es keine klare und stabile Mehrheit im Parlament geben, was die Entscheidungen unberechenbarer macht. Da die Parlamentsmehrheit keine Regierung stützt, wie in nationalen parlamentarischen Systemen, haben stabile Koalitionen nicht die gleiche Bedeutung. Allerdings ist das Parlament in vielen Situationen auf ein hohes Quorum angewiesen, will es seiner Politik Nachdruck verleihen. Ist das Parlament durch Blockadehaltungen oder eine Politik der Desintegration durch EU-skeptische Parteienkoalitionen geschwächt, hat dies jedoch gravierende Auswirkungen auf das politische System der EU.

Die wohl gravierendste langfristige Auswirkung wird sein, dass ein fragmentiertes geschwächtes Parlament seine ausgleichende Rolle im Verhandlungssystem der EU nicht mehr spielen kann. Die EU ist ein konsensbasiertes System, in dem die europäischen politischen Fraktionen im Parlament eine wichtige Funktion übernehmen. Sie tragen zu den auszuhandelnden Konsensstrategien der Mitgliedstaaten bei. Wenn stabile Kommunikationskanäle ins Parlament wegbrechen, wird die ohnehin schon schwierige Konsensbildung zusätzlich behindert. In der Folge wird die zwischenstaatliche Diplomatie wieder wichtiger werden. Doch multiple bilaterale Diplomatie ist nicht so effektiv, wie ein konsensorientierter Dialog zwischen Parlament und Regierungen auf europäischer Ebene. Das Parlament wird auf lange Sicht seine gemeinschaftsfördernde Wirkung nur eingeschränkt wahrnehmen können und die nationale Ebene wird an Gewicht gewinnen. Dies ist die diametral entgegengesetzte Botschaft, die diese Wahl eigentlich hatte.