Stromversorgung braucht eine engagierte Kundschaft

Forschung am Telecooperation Lab

21.09.2021 von

Können ausgerechnet wir als Verbraucherinnen und Verbraucher das künftige Stromnetz stabiler machen? Ein Forschungsteam um Rolf Egert und Max Mühlhäuser arbeitet an einer entsprechenden Vision.

Professor Max Mühlhäuser und sein Doktorand Rolf Egert entwickeln für das „Smart Grid“ eine Grundlage zur besseren Stromverteilung unter schwankenden Bedingungen.

Stromausfall ist ein seltenes Phänomen in Deutschland. Das könnte sich bald ändern: Extremwetterlagen, die zuletzt in Nordamerika die Lichter ausgehen ließen, kommen mit dem Klimawandel vermehrt zu uns – und unser vergleichsweise robustes Netz gerät an seine Grenzen. Zudem bedrohen Cyberattacken und Anschläge unsere Infrastruktur. In München waren kürzlich durch einen Brandanschlag mehrere Häuser zwei Tage lang ohne Strom. Die kontinentale Vernetzung in der Energieversorgung kann zwar eine Balance zwischen Angebot und Nachfrage schaffen, aber auch einen Schneeball-Effekt hervorrufen – erst im Januar legte ein kleines Problem in Kroatien große Teile Südosteuropas lahm. Nicht zuletzt treten viele kleine Energieerzeuger mit Photovoltaik und Windkraft an die Stelle der Großkraftwerke. Dieses dezentrale und zunehmend „Smarte“ Grid ist zumindest bislang nicht krisenfest.

Wie kann unter diesen Bedingungen ein resilientes Smart Grid entstehen? Mit dieser Frage beschäftigen sich Forschergruppen an der TU Darmstadt. Ein Team um Professor Max Mühlhäuser in der Informatik entwickelt zum Beispiel Algorithmen, die das Smart Grid bei Ausfällen in überlebensfähige Inseln zerlegen. Sie sollen sich dann schnellstmöglich automatisch wiedervereinigen.

Rolf Egert, Doktorand und Gruppenleiter für den Bereich Smart Protection in Infrastructures and Networks (SPIN), möchte die Konsumenten und Konsumentinnen mehr einbinden: „Für ein robustes Stromnetz brauchen wir ihre Mitarbeit – und zwar nicht nur als Investoren in erneuerbare Energie.“ Egert hat dabei vor allem Privathaushalte im Blick. „Sie sind für etwa ein Viertel des Stromverbrauchs in Deutschland verantwortlich – gleichzeitig wächst unter ihnen der Anteil der Stromproduzenten“, sagt er.

Für ein robustes Stromnetz brauchen wir ihre Mitarbeit.

Egert, Mühlhäuser und weitere Forschende veröffentlichten ein Visionspapier, dem eine wissenschaftliche Erhebung unter Privatpersonen vorausgegangen war. Ziel war, sich ein erstes Bild zu machen über das Problembewusstsein und die Bereitschaft der Kundschaft, mitzuwirken. Die Forschenden gehen davon aus, dass künftig bei Ausfall des überregionalen Netzes zwar noch ein dezentrales Angebot durch etwa Solar- und Windanlagen oder Batterien bleibt, die Strom-Nachfrage aber typischerweise über dem Angebot liegen dürfte. Bei einer extremen Unterversorgung greift derzeit der lokale Betreiber ein, indem er einige Straßenzüge unbeschränkt mit Strom versorgt, andere abklemmt – und dabei potentiell auch lebenswichtige Geräte und lokale Produzenten lahmlegt.

Im Smart Grid sollen die Strom beziehenden Haushalte nun festlegen, welche Geräte angeschaltet bleiben und welche nicht. Damit entsteht ein komplexes Problem: Wie kann ein schwankendes Angebot Menschen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht werden?

Viele Menschen schrecken zurück

Grundsätzlich könnten Verbraucherinnen und Verbraucher ihre Geräte fernschalten lassen. Der Netzbetreiber würde bei Unterversorgung dann zum Beispiel Wärmepumpen oder Wasserboiler abschalten. Davor schrecken viele Menschen zurück, weil sie fürchten, dass der Betreiber etwa beim Duschen plötzlich das warme Wasser abstellt. Daher wäre es sinnvoller, wenn die Verbraucher aktiv am Smart Grid mitwirken.

Das Team um Egert entwickelt ein prototypisches Framework, mit dem lokale Ressourcen intelligent vernetzt werden können. Dabei stehen sie vor etlichen Herausforderungen – vieles, was in Industriebetrieben erfolgreich funktioniert, lässt sich nicht einfach auf Privathaushalte übertragen. Zudem müssen die Präferenzen im Haushalt berücksichtigt werden. „Als Privatperson kann ich dann festlegen, zu welchen Zeiten welche Geräte ausgeschaltet werden dürfen“, sagt Egert. „Ich kann zum Beispiel zulassen, dass werktags mein Klimagerät bis zu fünf Stunden abgeschaltet werden darf, wenn ich nicht zu Hause bin.“ Maschinelles Lernen kann helfen, die Gewohnheiten der Stromkunden zu verstehen und dementsprechend Vorschläge machen. Doch auch dann müssen sich die Menschen mit der Thematik auseinandersetzen und Entscheidungen treffen.

Außerdem gilt es, unsoziales Verhalten zu verhindern. Einzelne könnten dem Mechanismus hochpriorisierten Bedarf vorspielen und darauf setzen, dass es dafür die Nachbarschaft umso härter trifft. Wie kann man Menschen motivieren, sich stattdessen positiv einzubringen? „Es liegt nahe, zu glauben, dass sie ein Interesse an einer reduzierten Stromrechnung oder finanziellen Belohnungen haben“, sagt Egert, der mit Fachleuten aus der Psychologie zusammenarbeitet.

Visualisierung der Verbrauchsdaten reicht nicht

„Eine solche extrinsische Motivation wirkt aber meist nur kurzfristig.“ Auch eine simple Visualisierung der Verbrauchsdaten, wie einige Smart Meter sie bieten, oder der Hinweis des Ökostromanbieters, wie viel CO2 eingespart wurde, reichten nicht – beides sei zu abstrakt. „Motivierender wäre es, wenn die Menschen konkret wüssten, was sie mit ihrem Engagement bewirken“, sagt Egert. „Sie könnten zum Beispiel die Information erhalten, dass ihr Verzicht auf Komfort dazu beitrug, die lokale Schule mit Strom zu versorgen.“

Dieser Ansatz ließe sich mit Nudging („Stupsen“) kombinieren. Nudging ist in vielen Bereichen effektiv: So ist bekannt, dass Menschen im Supermarkt impulsiv Süßwaren kaufen, die in Kassennähe ausgelegt werden. Platziert man dort gesunde Gerichte, werden stattdessen diese häufiger mitgenommen. Auch bei der Festlegung von Passwörtern im Internet hat sich Nudging bewährt – einige Webseiten zeigen während des Eintippens an, wie sicher das gewählte Passwort ist. Ähnlich könnte man bei Entscheidungen im Energieverbrauch auf die Konsequenzen hinweisen. Die so genannte Gamification wäre ebenfalls denkbar. Dabei werden Prinzipien aus Videospielen übernommen: Ein Verbraucher erhält Punkte für die Anpassung seines Stromverbrauchs und kann sich in einer lokalen Rangliste anonym mit der Nachbarschaft messen.

Für die Strombetreiber ist es wichtig, einen klaren Überblick über die aktive Kundschaft und ihre Präferenzen zu haben, aber auch über die möglichen Kosten angesichts unterschiedlicher Liefertarife und womöglich verhandelbarer Einspeisevergütungen für Haushalte, die Strom anbieten. Die Betreiber müssen schnell entscheiden können, welche Ressourcen sie bei Unter- oder Überversorgung einbeziehen. Die Randbedingungen können technisch komplex sein, so dürfen womöglich nicht immer dieselben Geräte geschaltet werden, da sie sonst schneller verschleißen. Bisweilen ist auch die räumliche Nähe von Verbrauchern zur Problemsituation ausschlaggebend.

Wir glauben, dass ausreichendes Wissen über das heutige Stromnetz und das Potenzial des Smart Grid ein Schlüssel ist.

Die größte Herausforderung aber ist es, ein Bewusstsein für ein resilientes Energienetz zu schaffen. „Wir glauben, dass ausreichendes Wissen über das heutige Stromnetz und das Potenzial des Smart Grid ein Schlüssel ist“, sagt Egert. Mehr Wissen schaffe mehr Affinität zu energierelevanten Themen und motiviere die Menschen, in eine Doppelrolle als Konsumierende und Produzierende zu wechseln. „Zudem stehen aktive Verbraucherinnen und Verbraucher dem energiebezogenen Wandel aufgeschlossener gegenüber – und je mehr es von ihnen gibt, desto eher werden sich politische Entscheidungen und Technologietransfer beschleunigen.“ Für die Netz-Resilienz ist beides unumgänglich.

Publikation

„Exploring energy grid resilience: The impact of data, prosumer awareness, and action“, Rolf Egert, Jörg Daubert, Stephen Marsh, Max Mühlhäuser. Patterns, Vol. 2, Issue 6, 100258, June 11, 2021 (Open Access)

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