Bücher mit Vergangenheit

Auf der Suche nach NS-Raubgut in den Regalen der ULB Darmstadt

14.02.2023 von

Von Gurlitt bis zu den Benin-Bronzen: Die Provenienzforschung in deutschen Kultureinrichtungen ist in aller Munde. Sie beschäftigt sich mit der systematischen Untersuchung der Herkunft (Provenienz) von Kultur- und Kunstobjekten. Auch an der ULB Darmstadt werden Teilbestände der ehemaligen Landesbibliothek systematisch nach NS-Raubgut überprüft.

Die Projektmitarbeiterinnen Ellen Wendel (links) und Dr. Sophie Müller untersuchen ein Buch im Magazin der ULB nach Hinweisen, ob dieses während der NS-Zeit beschlagnahmt wurde.

Erste Forschungen nach Kulturgütern, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden, begannen während des Zweiten Weltkriegs durch die Alliierten. Die Objekte sollten an die rechtmäßigen Besitzer: innen zurückgegeben werden. Viele befinden sich jedoch bis heute in öffentlichen Institutionen.

1998 wurden die Washingtoner Prinzipien definiert. Sie wurden von 44 Staaten sowie Nichtregierungsorganisationen verabschiedet und haben das Ziel, geraubte Kulturobjekte zu identifizieren, zu dokumentieren und faire Lösungen der Rückgabe anzustreben. Sie belegen das fortgesetzte Interesse an dem rechtmäßigen Umgang mit entzogenen Kulturgütern.

In einem zweijährigen, vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste geförderten Projekt der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt (ULB) werden Teilbestände der ehemaligen Landesbibliothek systematisch nach NS-Raubgut überprüft. Untersuchungsgegenstand sind die zwischen 1945 und 1949 neu formierten Bestände der Bibliothek (d.h. die Signaturgruppen 45/ bis 47/ und 49/). Darin wurde bereits stichprobenhaft NS-Raubgut nachgewiesen. Sie enthalten in der NS-Zeit sekretierte, verbotene Literatur, die bei dem Bombenangriff am 11. 9. 1944 erhalten geblieben ist. Zudem umfasst das Korpus Bücher, die nach dem Krieg für einen zügigen Wiederaufbau der Bibliothek aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragen wurden.

Gerechte Restitution als Ziel

Händisch (per Autopsie) werden 40.000 Titel direkt am Bücherregal im Magazin untersucht. Die Analyse konzentriert sich auf Exlibris, Stempel und Notizen in den Büchern, sogenannte Provenienzmerkmale. Danach erfolgt eine Recherche nach den Vorbesitzer:innen in Archivdatenbanken. Wichtige Hinweise geben zudem erhaltene Zugangsbücher der Landesbibliothek, die über die Erwerbungen der Bibliothek informieren. Die Befunde werden im Onlinekatalog der ULB und im Hessischen Verbundkatalog dokumentiert.

Es ist geplant, die Ergebnisse in Aufsätzen und Vorträgen zu präsentieren. Die gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen die Suche nach Vorbesitzer:innen, deren Erb:innen oder Rechtsnachfolgenden, damit eine Restitution der Bücher im Sinne gerechter und fairer Lösungen nach den Washingtoner Prinzipien erfolgen kann.

Zwei Raubgut-Beispiele aus der ULB

1. Fall: Mehrere Provenienzmerkmale weist das Exemplar „Das Verborgene Licht“ von Martin Buber auf. Zunächst den Stempel „Sichergestellt durch Einsatzstab RR. Riga“, welcher auf die zentrale Institution des Kunstraubs, den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR) hinweist, was das Buch eindeutig als Raubgut aus Osteuropa nach 1941 kennzeichnet. Vom ERR stammt vermutlich auch die Signatur D 1585, die mit blauem Buntstift eingetragen wurde. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Buch als Raubgut durch die alliierten Besatzungsmächte identifiziert und zu einem Collecting Point gebracht: dem Offenbach Archival Depot (OAD). Dieses restituierte nach Kriegsende drei Millionen der vier Millionen dort aufbewahrten Bücher. Objekte, die nicht zurückgegeben werden konnten, wurden 1949 öffentlichen Sammlungen zugewiesen. So erhielt das Buch auch einen Stempel des OAD, bevor es in die Landesbibliothek Darmstadt kam. Beide Stempel wurden ungültig gemacht und das Buch der eigenen Sammlung zugeeignet.

2. Fall: Das zweite Beispiel stammt aus dem Privatbesitz eines politisch Verfolgten. Es handelt sich um den kommunistischen Titel „Der Fünfjahrplan der Sowjetunion“ von 1930. Darin fanden befindet sich der Stempel von Philipp Georg Grünewald aus Lampertheim. Die Recherchen ergaben, dass Grünewald Elektriker war und in der Weimarer Republik der KPD und anderen kommunistischen Organisationen angehörte. Im Frühjahr 1933 wurde er verhaftet und musste sich danach zunächst dreimal täglich bei der Polizei melden. Seine Bibliothek zur Arbeiterbewegung wurde 1935 von der Gestapo beschlagnahmt. In die Landesbibliothek gelangte das vorliegende Buch vermutlich nach Kriegsende aus einem Darmstädter Gestapokeller.

Weitere aktuelle Nachrichten aus der TU Darmstadt