„Krise! Wie 1923 die Welt erschütterte“

Interview mit Professor Nicolai Hannig und Dr. Detlev Mares vom Institut für Geschichte

17.02.2023 von

1923 war ein Jahr, das die Menschen aufrüttelte, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Im Interview sprechen Professor Nicolai Hannig und Dr. Detlev Mares vom Institut für Geschichte über Ihr Buch „Krise!“ und die für das Sommersemester 23 geplante Ringvorlesung.

Inflation und Hyperinflation werden klassischerweise mit dem Jahr 1923 assoziiert.

TU Darmstadt: Bitte erzählen Sie ein wenig über Ihren Band „Krise!“ – wie entstand die Idee, an wen richtet es sich und worum geht es?

Nicolai Hannig: Am Institut für Geschichte gibt es die Tradition, Ringvorlesungen zu Jahresthemen durchzuführen – mal zu Jubiläen, mal zu einem bestimmten Jahr. Wir schauen in die Geschichte zurück und geben in zwölf Vorträgen einen Überblick. Damit möchten wir eine größere Öffentlichkeit ansprechen, also raus aus unserem Institut für Geschichte, rein in die Öffentlichkeit der Stadt und der Metropolregion. So auch das Jahr 1923, als vermeintliches Krisenjahr mit dem 100-jährigen Jubiläum. Im Buch und der Ringvorlesung im Sommersemester schauen wir es uns aus unterschiedlichen Blickrichtungen an.

Detlev Mares: Die Idee, das „Krisenjahr“ 1923 zu betrachten, kam in der Coronazeit auf, als man wegen der Pandemie viel von Krise sprach. Dass der Vergleich zwischen der Gegenwart und dem „Krisenjahr“ mit dem Ukraine-Konflikt und der verstärkten Inflation besonders brisant werden würde, hat sich erst ergeben, als die Planung schon im vollen Gang war.

Öffentliche Ringvorlesung des Instituts für Geschichte im Sommersemester 2023

Namhafte Historikerinnen und Historiker stellen ausgewählte Aspekte der Geschichte dieses Jahres vor und regen zur Diskussion über deren Gegenwartsrelevanz an.

Dienstags, 18.00-19.45 Uhr, Raum S3|13 30 (Hörsaal im Residenzschloss, TU Darmstadt)

Mehr zur Ringvorlesung

Hannig: Buch und Ringvorlesung sind auch der Versuch, die Gegenwart historisch zu orientieren. Man hört, liest, sieht oder unterhält sich darüber, ob das mit der Inflation nicht so ist wie damals und ob uns das nicht auch bevorsteht. Auf solche Rückblicke und Analogien wollen wir reagieren.

Was sind die Themen des Jahres 1923, die Sie im Buch beleuchten? Wo gibt es Unterschiede zu anderen Werken?

Hannig: Es gibt die klassischen Themen, die man sofort mit 1923 assoziiert. Das sind Inflation und Hyperinflation. Hinzu kommen der Hitlerputsch und als drittes klassisches Thema die Besetzung des Ruhrgebietes durch französische und belgische Soldaten. Diese Themen kennt man, aus dem Schulunterricht oder durch Gedenktage.

Wir bleiben jedoch nicht bei diesen klassischen Themen stehen, sondern versuchen auch Anderes ins Blickfeld zu rücken, andere Regionen und Länder. Wir präsentieren keine deutsche Nabelschau.

Unser Ziel war außerdem davon wegzukommen, das Jahr nur mit einer Krise zu assoziieren. Also zu zeigen, was ist denn eigentlich in diesem Jahr noch passiert. Welche Entdeckungen gab es? Denken Sie etwa an die Öffnung der Grabkammer von Tutanchamun, durch die in Europa so etwas wie eine Ägyptomanie ausbricht. Oder die erste Bauhaus-Ausstellung, die in Sachen Design und Produktdesign Maßstäbe gesetzt und zum ersten Mal einen größeren Publikumskreis erreicht hat.

Mit diesen drei unterschiedlichen Perspektiven, werfen wir einen weiten Blick auf das vermeintliche Krisenjahr 1923.

Mares: Anders als die meisten Publikationen zum Jahr 1923 ist unser Buch ein Sammelband. Wir haben zwar eine Herausgeberlinie verfolgt, durch die vielen verschiedenen Autorinnen und Autoren aber eine Vielfalt an Perspektiven auf das Jahr.

Warum war es Ihnen im Buch wichtig, auch auf das Ausland zu schauen?

Hannig: Es komplettiert den Blick auf das Jahr 1923. Wir wollten diskutieren, welche Ereignisse auf der Welt einen Platz in einem Gesamtpanorama verdienen.

Mares: Es hätte viele Themen gegeben, für die das Jahr 1923 einen Ansatzpunkt bietet. In der Türkei war das Jahr besonders wichtig. Es ist das Jahr der Entstehung der Republik und des Vertrags von Lausanne. Regelungen, die nach dem Ersten Weltkrieg noch mit dem osmanischen Reich getroffen worden waren, wurden aufgehoben. Es gab eine neue Ordnung, die unter anderem zu der Bevölkerungsverschiebung zwischen der Türkei und Griechenland führte. Diese prägt bis heute das Verhältnis der beiden Länder und ist immer noch ein Thema.

Nicolai Hannig, Detlev Mares (Hg.):

Krise! Wie 1923 die Welt erschütterte

wbg academic, Darmstadt 2022, 240 Seiten

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Wegen des aktuellen Kriegs fanden wir auch einen Beitrag zur Ukraine wichtig. Dort war das Jahr 1923 zwar nicht direkt ein Epochenjahr. Franziska Davis, die den Beitrag geschrieben hat, argumentiert aber, dass es das Jahr ist, in dem die ukrainische Nationalbewegung zum ersten Mal erkennen musste, dass der Anlauf, eine eigenständige Ukraine zu gründen, im Gründungsprozess der Sowjetunion gescheitert war.

Auch das Erdbeben in Kanto ist ein Thema im Buch. Es ist natürlich in gewisser Weise Zufall, dass ein so großes, verheerendes Erdbeben in dieses Jahr fiel. Aber im Beitrag erfährt man einiges über die japanische Gesellschaft und auch generell über den Umgang von Gesellschaften mit solchen Naturkatastrophen.

Sie planen im Sommersemester 23 eine Vorlesung zum Thema – können Sie darüber etwas erzählen?

Hannig: Wir treffen uns im Sommersemester jeden Dienstag um 18:00 Uhr im frisch renovierten Hörsaal im Residenzschloss. Unsere Vorstellung ist es, Historikerinnen und Historiker als Experten mit Studierenden und der Stadtöffentlichkeit in Berührung bringen. Die Vorträge sind so angelegt, dass wir ein möglichst breites Publikum damit ansprechen. An die Vorträge schließt sich immer ein Gespräch an. Es gibt die Möglichkeit für Rückfragen und Diskussionen.

Mares: Gerade Fragen, die etwas knifflig sind, wie die nach der Gegenwartsrelevanz oder Parallelen zu 2023, kann man gut in einer Diskussion behandeln, die auf unterschiedliche Perspektiven und Fragen aus dem Publikum eingehen kann. Wir erhoffen uns interessante, differenzierte Gespräche über das, was unsere Autorinnen und Autoren vorgetragen haben.