„Iglus“ für das Erdbebengebiet: Humanitäre Technologie im Wandel der Zeit

Ein Gastbeitrag von Adrian Franco, Institut für Geschichte

19.04.2023

Das historische Forschungsprojekt „Build Back Better!“ an der TU Darmstadt befasst sich mit der Nachsorge und dem Wiederaufbau nach Naturkatastrophen. Dieser Gastbeitrag präsentiert vorläufige Forschungsergebnisse – und wirft anlässlich der jüngsten Erdbebenkatastrophe in der Türkei, in Nordsyrien und in der kurdischen Selbstverwaltungszone Rojava Schlaglichter auf die Geschichte humanitärer Hilfsleistungen aus Deutschland.

Im Frühjahr 1970 türmten sich in der Region um die türkische Stadt Gediz eigenartige Kuppelbauten in den Himmel: Ein Team aus Technikern der BAYER AG fertigte am laufenden Band mehr als 400 Notunterkünfte aus gespritztem Schaumstoff für die Überlebenden des Erdbebens vom 28. März 1970 an. Das Team nebst Fahrzeugen und Fabrikationsgerät war eigens für den Nothilfeeinsatz mit einer Maschine der Luftwaffe und Helfer:innen des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) eingeflogen worden. Aufgrund ihrer markanten Form wurden die Notbehausungen „Iglus“ genannt. Sie kamen in der Folgezeit auch nach Erdbeben in Peru (1970) und Nicaragua (1972) zum Einsatz, bevor sie nach wachsender Kritik schließlich ausgemustert wurden.

Die BAYER AG sah folgende Fertigungsschritte der „Iglus“ aus dem patentierten Kunststoff Hartmoltopren vor: Zunächst wurde ein Ballonschlauchkissen mit Luft aufgepumpt, dann auf einer Drehscheibe rotiert, bis schließlich der Schaumstoff schichtweise auf der Oberfläche aufgesprüht wurde. Nach Erhärtung konnte das Schlauchkissen entlüftet und entfernt werden, sodass die äußere Wand stehen blieb. In diese Wand wurden anschließend Fensteröffnungen und Zugänge geschnitten. Die Konstruktion verfügte über keinen Boden: Es ist anzunehmen, dass dieser aus einer Plane oder festeren Materialien, womöglich sogar einem leichten Fundament bestand. Der Vorteil war, dass die „Iglus“ aufgrund des leichten Materials transportabel waren und versetzt werden konnten.

Der von Buckminster Fuller entworfene Pavillon der USA auf der Expo 1967 in Montreal, Kanada.
Der von Buckminster Fuller entworfene Pavillon der USA auf der Expo 1967 in Montreal, Kanada.

Geodätische Kuppeln: stabil und erbebensicher

Der Bau sogenannter geodätischer Kuppeln, deren Tragewerk im Wesentlichen aus gleichgroßen polygonalen Flächen zusammengesetzt ist, erreichte im 20. Jahrhundert mit dem Architekten Buckminster Fuller (1895-1983) an Bekanntheit. Aufgrund der günstigen Kräfteverteilung des Tragewerkes gelten sie als besonders stabil und erbebensicher. Ende der 1960er-Jahre war der Bau sphärischer Kuppeln in der nordamerikanischen Gegenkultur ein beliebtes Projekt für Häuslebauer:innen.

Die materiellen Spuren der „Iglus“ im Erdbebengebiet von Gediz scheinen die Zeit nicht überdauert zu haben: An der Wende zu den 1980er-Jahren wurden sie von interessierten Forscherenden wiederentdeckt. Bis dahin war allerdings von ihrer ursprünglichen Gestalt nur noch wenig übriggeblieben. Ein Großteil war der Witterung zum Opfer gefallen, hier und da wurden Bruchstücke der „Iglus“ noch als Baustoffe verwendet. Einzelne intakte ehemalige Notunterkünfte dienten als Ställe oder andere landwirtschaftliche Gebäude.

Am 06. September 1975 bebte um die türkische Stadt Lice die Erde, und Hilfsorganisationen wie Oxfam eilten in die Region, um Notbehausungen aus Kunststoff zu errichten. Diese unterschieden sich in ihrer Gestalt von den „Iglus“ der BAYER AG, da sie einem polygonalen Grundriss folgten. Ende der 1970er-Jahre stellte Oxfam den Einsatz von Notunterkünften aus Kunststoff ein. Für das DRK endete nach dem Nothilfeeinsatz in Nicaragua die Zusammenarbeit mit der BAYER AG.

Kritik an vorgefertigten Notunterkünften

Was war geschehen? Einflussreiche Expert:innen in der humanitären Hilfe der 1970er- und 1980er-Jahre wie der britische Ingenieur Ian Davis kritisieren den Einsatz von vorgefertigten Notunterkünften: Einer der schwersten Vorwürfe lautete, dass Fertighäuser den Wiederaufbau erschwerten, indem sie sich zu dauerhaften prekären Siedlungen ohne Infrastruktur entwickelten. Vielmehr sollte die Selbsthilfe der betroffenen Bevölkerung sowohl bei der Notunterbringung als auch beim Wiederaufbau gestärkt werden. Hilfsorganisationen problematisierten in der Folge den Einsatz von Notunterkünften und versuchten Alternativen zu finden, wie die Ausstattung von Erdbebengeschädigten in Guatemala 1976 mit Baustoffen und Geld für die Selbsthilfe.

Historisches Katastrophengedächtnis ist fragil

Die Erinnerung an die „Iglus“ spielt für die jüngste Katastrophenhilfe in der Türkei, in Nordsyrien und in der kurdischen Selbstverwaltungszone Rojava keine unmittelbare Rolle. Wesentlich prominenter wird das Beben vom 17. August 1999 in der Türkei als historisches Referenzereignis in der Berichterstattung über die Katastrophe von Anfang Februar 2023 geführt. In der Not der Stunde zeigt sich, wie bruchstückhaft und fragil das historische Katastrophengedächtnis ist und wie eine historische Katastrophenforschung dazu beitragen kann, dieses nachzuvollziehen.

Adrian Franco

Der Autor ist Promotionsstudent am Institut für Geschichte der TU Darmstadt und Mitarbeiter des Projekts „Build Back Better“, das von der Gerda-Henkel-Stiftung gefördert wird.