Dreidimensionale Präzisionsbilder – lebensecht

Start-up „Small World Vision“ im Porträt

20.07.2023 von

Naturgetreue 3D-Aufnahmen von kleinen, komplexen, farbigen Objekten liefert der Scanner des Start-ups „Small World Vision“. Das ursprünglich für die Digitalisierung analoger Insektensammlungen entwickelte Gerät erstellt mittlerweile auch aus Lebensmitteln, Feingeräten und Blüten realistische 3D-Modelle.

Bild eines 3D-Modells des Feldsandlaufkäfers (Cicindela campestris).

Fast meint man, die Biene streicheln zu können: Ein zarter Haarflaum umgibt den eleganten Körper, Fühler und Augen scheinen sich dem Betrachter aufmerksam zuzuwenden. Dr. Sebastian Schmelze dreht das Insekt um seine Achsen. Mit der Computermaus steuert er die hochaufgelöste Biene am Bildschirm. Von allen Seiten gibt das Bild das echte Objekt wieder – mit feinsten Details und in ungeheurer Präzision.

Innovation durch Forschung

Aufnahme einer Fliege im 3D-Scanner.
Aufnahme einer Fliege im 3D-Scanner.

Bislang fehlte eine Möglichkeit, die exakte Oberfläche oder das Volumen von Insekten zu ermitteln. Die filigranen Tierchen mit feinen Beinen, Flügeln und oft gebogenen Fühlern sind kaum zu vermessen. „Mit Makrofotografie erhält man zwar schöne Bilder, aber sie sind immer nur in einer Ebene scharf“, erklärt der Zoologe. So entstand die Idee, unzählige Bilder von allen Seiten des Insektenkörpers so zu kombinieren, dass eine maßstabsgetreue dreidimensionale Darstellung möglich wird – in Kooperation der Arbeitsgruppen der Darmstädter Professoren Michael Heethoff, Nico Blüthgen und Bernhard Ströbel.

Das geeignete Gerät steht heute vor Schmelzle: ein kastenförmiges Gehäuse, in dem eine ausrichtbare Kamera, ausgetüftelte Beleuchtung und eine drehbare Halterung für ein kleines Objekt untergebracht sind. Aus den rund 40.000 Makroaufnahmen errechnet die Software etwa 400 durchgehend scharfe Bilder. Diese dienen als Grundlage für eine weitere Software, die auf den Bildern bestimmte Erkennungspunkte ermittelt, miteinander verknüpft und so die exakten Maße widerspiegelt. Das Ergebnis ist eine dreidimensionale Aufnahme, die in hoher Genauigkeit dem Objekt entspricht.

Digitalisierung von Insektensammlungen

„Klassischer" Insektenschaukasten
„Klassischer" Insektenschaukasten

2018 veröffentlichte Schmelzle gemeinsam mit den drei Professoren in einem Open-Access-Journal die Beschreibung eines „Automatisierten Geräts für die Digitalisierung und 3D-Modellierung von Insekten“ . Es sollte Museen und Universitäten helfen, ihre Insektensammlungen zu digitalisieren. Dort ist für jede Art ein Modellorganismus hinterlegt. Diese „Holotypen“ stecken klassisch aufgespießt in einem Sammlungskasten, heutzutage wohltemperiert in Tresorschränken aufbewahrt. Bislang müssen Forschende zur sicheren Bestimmung eines Insekts dieses Original anfordern oder zum Hinterlegungsort reisen. Dieser Aufwand lässt sich mit einer genauen 3D-Aufnahme vermeiden. Zudem sind die Messungen am 3D-Modell einfacher und genauer, etwa an gebogenen Körperteilen wie Fühlern.

„Wir dachten, mit unserer Beschreibung können die Forschenden das Gerät nachbauen“, so Schmelzle. Aber nur eine deutsche Universität tat dies. Viele Universitäten und Museen fragten jedoch nach einem fertigen DISC3D (Darmstadt Insect SCanner 3D), so der Name des Prototyps. Daher entstand im Laufe von zwei Jahren die Idee, die Small World Vision GmbH zu gründen. Zum Team stießen 2020/21 Sarah von Hagen und Marc-Simon Stutz, die gerade ihren Master in Optotechnik und Bildverarbeitung beziehungsweise Maschinenbau abgeschlossen hatten.

Preise und Stipendien – dank HIGHEST und Business Coach

Wesentlicher Teil des Scanners ist die spezielle Software, um die vielen Bilder zu einer kalibrierten 3D-Aufnahme zusammenzubringen, erklärt Sebastian Schmelzle.
Wesentlicher Teil des Scanners ist die spezielle Software, um die vielen Bilder zu einer kalibrierten 3D-Aufnahme zusammenzubringen, erklärt Sebastian Schmelzle.

Schon wenige Monate später belohnte ein zweiter Platz beim „TU-Ideenwettbewerb“ das engagierte Gründungsteam von Small World Vision. Und der Erfolg setzte sich fort als Preisträger beim „Hessischen Gründerpreis“ 2021 und beim bundesweiten „Gründerwettbewerb Digitale Innovationen“ 2022. Die Zusage eines der EXIST-Gründungsstipendiums des Bundes ermöglicht den drei jungen Gründungsmitgliedern ein Jahr lang ein kleines Gehalt. Bei der Beantragung war HIGHEST eine große Hilfe, zumal nach einer ersten Absage Verbesserungen gefragt waren. „Sie haben uns geholfen, die Anträge genehmigungsfähig zu machen: Was kann und muss man schreiben – und vor allem: was besser nicht“, schmunzelt Stutz. Als Forschende hätten sie ausführlich die Vorteile dargestellt und weniger die finanziellen Aspekte im Auge gehabt. „Da mussten wir uns echt reinfuchsen“, ergänzt Schmelzle: „Was muss so ein Gerät kosten, wie viele müssen wir verkaufen?“ Hinzu kamen bürokratische Hindernisse: Drei Monate war die GmbH nicht geschäftsfähig, weil der Handelsregistereintrag beim Amtsgericht nicht vorankam.

Ein von HIGHEST vermittelter Business-Coach unterstützte das Team: „Er war streng, aber sehr hilfreich“, so Stutz. „Vor allem hat er uns motiviert, Mut gemacht.“ Er habe beim Business- und Finanzplan geholfen und mit ihnen einen Pitch entwickelt und geübt. „Das war nicht immer angenehm, super-anstrengend, aber eine tolle Hilfe, etwa mit Tipps gegen Nervosität“.

Mittlerweile hat das Team einen „Facelift“ am DISC3D vorgenommen: Stutz konstruierte ein Gehäuse, das äußere Einflüsse mindert, also etwa unerwünschten Lichteinfall, Staub und Luftzug. Zudem optimierte er zusammen mit Ströbel und von Hagen die Beleuchtung, die nun das Objekt homogen von hinten aus einer Platte beleuchtet. Dadurch kann die Kamera näher an das Objekt fahren, was gerade für kleine Untersuchungsobjekte hilfreich ist. Von Hagen programmierte die Software zur Bedienung des Geräts und baute einen neuen Algorithmus für die Berechnung der Bilder ein: „Dadurch haben wir deutlich weniger Artefakte, also Fehler in den Bildern, und sind deutlich schneller“.

Das neue Gerät, DISC3Dplus, ist laut Schmelzle wesentlich intuitiver und einfacher zu bedienen. Das neue Gerät hat das Team kürzlich erstmals verkauft – „mit einem lachenden und einem weinenden Auge“, so Stutz. Denn der Apparat geht nach Montreal, was wegen Zollrecht und Sicherheitsbestimmungen den Verkauf kompliziert. „Aber ich darf im Herbst mit nach Montreal reisen“, freut sich Schmelzle.

Lebensmittelindustrie interessiert: Kekse statt Insekten

Das Team von Small World Vision: Dr. Sebastian Schmelzle, Prof. Dr. Michael Heethoff, Sarah von Hagen, Prof. Dr. Bernhard Ströbel, Marc-Simon Stutz (von links).
Das Team von Small World Vision: Dr. Sebastian Schmelzle, Prof. Dr. Michael Heethoff, Sarah von Hagen, Prof. Dr. Bernhard Ströbel, Marc-Simon Stutz (von links).

Die erste Einnahmequelle waren allerdings Kunden, die das alte Gerät gekauft hatten und nun die neue Software nachrüsteten. Besonders spannend sind zudem Auftrags-Scans, etwa im Lebensmittelbereich: Ein Kunde aus dem Bereich Lebensmittelwerbung wünschte naturgetreue Aufnahmen von Zwiebelstücken und Gewürzgurken. Auch Kekse und Popcorn gehören zu den einträglichen Fotomodellen. „Wir nehmen alles auf, was so klein ist, dass es in unser Gerät passt“, sagt Schmelzle – im neuen DISC3Dplus sind das Objekte zwischen zwei Millimetern und 5,6 Zentimetern. Nur Transparenzen können Kamera und Software schwer auflösen, während glänzende Oberflächen – typisch etwa für Käfer – kein Problem darstellen. Einen Praxistest hat das Gerät bereits bestanden: Ein gescannter Schlüssel, im 3D-Drucker reproduziert, öffnete den Laborschrank problemlos.

Im Vergleich zur Konkurrenz punktet das Gerät von Small World Vision vor allem in zwei Bereichen: Es kann deutlich kleinere Objekte scannen, und durch eine kalibrierte Bildaufnahme gleicht es rechnerisch alle perspektivischen Verzerrungen exakt aus. Bessere und schnellere Bilder verspricht eine Neuerung, die von Hagen einbaute: eine Flüssiglinse. Diese flüssigkeitsgefüllte Linse kann – ähnlich wie das Auge – die Wölbung der Oberfläche ändern und so bei fixierter Kamera samt Objektiv auf verschiedene Ebenen scharfstellen. Die Kombination dieser verschiedenen Technologien ist zum Patent angemeldet. Das nächste Ziel ist daher der „Ascomo3D“ (Automated SCanning Of Macro Objects), der bis zu 30 Zentimeter große Objekte scannen und einen automatischen Probenwechsel erlauben soll. Damit kann über Nacht ein ganzes Magazin von Proben digitalisiert werden. So will das Team sein Einsatzgebiet vergrößern und neue Kunden gewinnen.

Denn mittlerweile denken sie auch betriebswirtschaftlich: „Wir hätten gleich das erste 3D-Gerät verkaufen sollen“, so Stutz selbstkritisch. Sie hätten zu perfektionistisch gedacht und zu lange an Verbesserungen getüftelt. Nicht alles allein machen, nicht zu lange zögern, ist sein Tipp an Gründungsinteressierte: „Wir hätten nicht auf den Prototyp warten, sondern früher das Interesse wecken und Marketing und Vertrieb starten sollen“. Auch Geldquellen – Preise, Wettbewerbe, öffentliche Geldgeber – seien zu Anfang besonders wichtig.

Insekten der Öffentlichkeit näherbringen

Doch das Team denkt nicht nur in Gewinnmargen. Es will noch dieses Jahr einen transportfähigen Scanner für öffentliche Nutzer:innen vorstellen. Er soll in Museen, Ausstellungen und Schulen die Bestimmung von Insekten erleichtern. Dazu gehört die Lernplattform digitib.de, auf der ein von Small World Vision gescannter Käfer krabbelnd zum Kennenlernen und Bestimmen einlädt. Ob das dem Nachwuchs die Insektenwelt sympathischer macht, ist sich Schmelzle allerdings nicht sicher: „Auf einer Ausstellung fand ein Mädchen unser 3D-Modell eines Käfers am Computer total cool – aber das echte Tier im Kasten später dann trotzdem eklig“.

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