Erzählungen über Europa

Forschung am Institut für Politikwissenschaften

20.12.2021 von

Brexit, Flüchtlingsfrage, Konflikte mit Polen und Ungarn: Die EU kommt aus den Schlagzeilen nicht heraus. Wie aber sprechen die Menschen in Europa über Europa? Das erforscht gerade ein internationales Team an der TU Darmstadt.

Die Professoren Björn Egner, Hubert Heinelt und Jens Steffek (v.li.n.re.)

Sie sind für sechs Monate in Darmstadt zusammengekommen, um die Grundlagen zu schaffen für ein internationales Projekt der besonderen Art. Forschende aus neun Mitgliedsstaaten der Europäischen Union wollen wissen: Wie sprechen die Bürgerinnen und Bürger ihrer Heimatländer über Solidarität, Fairness, Kohäsion und Reziprozität in der EU? Was verbinden die Menschen mit diesen Begriffen, die in ihrer Alltagssprache eher selten vorkommen? Und welche Schlüsse sind aus ihren Erzählungen mit Blick auf die zukünftige Gestaltung eines Europas zu ziehen, von dem viele sich wünschen, dass es sich nicht nur als starke Wirtschaftsgemeinschaft behauptet, sondern auch zu einer „ever closer union“ wird, die politisch enger zusammenwächst?

„Wir wollen rekonstruieren, welche Geschichten sich die Menschen über Europa erzählen, welche Bilder und Alltagserfahrungen sie dabei im Kopf haben und was sie von der EU und den dortigen Akteurinnen und Akteuren erwarten“, erläutert Professor Hubert Heinelt, der an der TU Darmstadt gemeinsam mit den Politologen Professor Jens Steffek und Professor Björn Egner das Projekt „HEUREC – How Europeans understand fairness, reciprocity and cohesion“ leitet. Die Erforschung von Narrativen ist eines der wichtigsten Instrumente in der Politologie. Einerseits legen sinnstiftende Erzählungen wie Willi Brandts „Mehr Demokratie wagen“ oder Donald Trumps „Make America great again“ den Rahmen fest für das politische Handeln einer Partei oder Regierung.

Bürgerinnen und Bürger kreieren Narrative

Zum anderen kreieren aber auch Bürgerinnen und Bürger selbst Narrative und verhelfen ihnen zu einer eigenen Dynamik. „An der Eurokrise ist Griechenland schuld, weil es immer über seine Verhältnisse lebt“ ist ein Beispiel für eine solche Erzählung. Sie zu kennen ist nicht nur für die Wissenschaft spannend, sondern auch von strategischer Bedeutung für politische Entscheider und Entscheiderinnen.

„Wie die Integration in der EU weiter verläuft, wird entscheidend davon abhängen, ob man es schafft, diese Narrative zu adressieren“, glaubt Egner. Um ihnen auf die Spur zu kommen, untersuchen Forschende bislang überwiegend Sekundärtexte, die von Profis aus der Politik oder aus den Medien verfasst wurden, oder führen Interviews mit fest vorgegebenen Fragen. Das HEUREC-Team verfolgt einen direkteren Ansatz, um den öffentlichen Diskurs zu erfassen und zu analysieren. „Wir lassen die Bürgerinnen und Bürger nicht übereinander, sondern miteinander sprechen“, erklärt Jens Steffek. Geplant sind in jedem der teil- nehmenden Länder moderierte Diskussionen in drei Fokusgruppen, die unterschiedliche soziökonomische Milieus abbilden.

Über den Zusammenhalt in Europa und Fragen der Solidarität in den Austausch kommen sollen erstens Geringqualifizierte und Arbeitslose, zweitens Hochqualifizierte und Führungskräfte aus der Wirtschaft und drittens junge Menschen, die kurz vor dem Gymnasialabschluss stehen oder ein Studium begonnen haben. „Wir gehen davon aus, dass jede Gruppe unterschiedliche Ansichten zum Thema hat und sich dementsprechend auch andere ,Geschichten‘ erzählt“, erläutert der Experte für transnationales Regieren.

Diese Diskussionsrunden zu konzipieren und zu begleiten ist eine komplexe Aufgabe. Die Teilnehmenden kennen sich vorher nicht. Der Einstieg muss aber für alle verständlich sein, die Scheu vor der „wissenschaftlichen Situation“ genommen werden. Die Forschenden sollen die Debatte idealerweise nur anstoßen, eventuell korrigierend eingreifen, aber „ohne den Gesprächsfaden abzuschneiden“, wie Egner es formuliert. Ein möglicher Aufhänger könne die Finanz- und Wirtschaftskrise sein, das Thema, das sich daran im Laufe des Austauschs anknüpfe, die Idee einer europäischen Arbeitslosenversicherung.

Politisch heißes Eisen

Politisch ist das ein heißes Eisen, zum einen, weil die EU-Mitglieder auf ihre Souveränität in der Sozialpolitik pochen, zum anderen, weil das Thema emotionale Umverteilungsdebatten provoziert. Umso spannender sei es herauszufinden, „was die Europäer persönlich darüber denken“, findet der Politologe. „Letztlich geht es darum, dass es Solidarität nicht nur zwischen Staaten geben muss, sondern auch zwischen Individuen.“

Wir lassen die Bürgerinnen und Bürger nicht übereinander, sondern miteinander sprechen.

Eine der größten Herausforderungen aber ist es, einen gemeinsamen Standard für die in neun EU-Ländern geführten Diskussionen zu finden und die Ergebnisse so für die spätere Analyse vergleichbar zu machen. Im Gespräch mit der Soziologin Inga Gaižauskaite und ihren beiden Projektkollegen, den Politologen Petros Karpathiou und João Moniz, bekommt man ein Gefühl dafür, wie unterschiedlich der Blick auf Europa sein kann. Ihre Heimatländer – Litauen, Griechenland und Portugal – gehören zur Gruppe der so sogenannten Nettoempfänger, also der Staaten, die mehr Geld aus dem EU-Haushalt erhalten, als sie einzahlen, und sich eher als kleines Rad am Wagen denn als großer Motor europäischer Politikgestaltung sehen. Dennoch beobachten die drei Forschenden sehr individuelle Haltungen und Erwartungen gegenüber der Union.

So nimmt Moniz unter seinen portugiesischen Landsleuten zwar generell eine hohe Meinung von den Institutionen der EU wahr, gleichzeitig aber auch eine pragmatische, von wenig Enthusiasmus geprägte Einstellung gegenüber einer Staatengemeinschaft, die man als vorwiegend ökonomisch empfindet. In Griechenland, wie Portugal seit den 1980er-Jahren EU-Mitglied, dominierten derzeit enttäuschte Erwartungen in die Solidarität der EU nicht nur die öffentliche Meinung, sondern auch die der politisch Aktiven, beobachtet Karpathiou. Für Litauen, seit der ersten Osterweiterung 2004 dabei, sei die Europäische Union gefühlt weit weg, gleichwohl das Vertrauen in Europa und seine demokratischen Werte hoch, erzählt Gaižauskaite.

Um sich und die Situation in ihren Ländern besser kennenzulernen und eine gemeinsame Sprache für ihre Forschungen zu finden, haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Darmstadt viel Zeit miteinander verbracht. Mit einem einheitlichen Leitfaden im Gepäck starten sie in ihren Heimatländern jetzt in die Arbeit mit den Fokusgruppen. Im Frühjahr 2022 wollen sie zur vergleichenden Analyse der Daten wieder an die TU Darmstadt zurückkehren. Ziel sei es, so Heinelt, zu identifizieren, „was in der politischen Debatte zum Zusammenhalt in Europa auf Resonanz bei den Menschen stoßen kann, weil es in ihren Alltagsgesprächen bereits angelegt ist."

Das Projekt

Das internationale Forschungsvorhaben „HEUREC – How Europeans understand fairness, reciprocity and cohesion“ wird gefördert vom Bundesministerium für Forschung und Bildung (BMBF) und läuft bis Frühjahr 2024. Neben Forschenden aus dem Institut für Politikwissenschaft der TU Darmstadt beteiligen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Finnland, Griechenland, Lettland, Litauen, den Niederlanden, Portugal, der Slowakei und Spanien an dem Projekt. Um die Projektergebnisse in die Praxis zu transferieren, sind unter anderem drei länderübergreifend besetzte Fokusgruppen in Kooperation mit dem Rat der Regionen und dem Wissenschaftlichen Dienst des Europäischen Parlaments in Brüssel geplant sowie eine Reflexion der Forschungserkenntnisse mit politischen Entscheidern und Entscheiderinnen.

Weitere Artikel in der hoch³ FORSCHEN 4/2021