Studieren in zwei Welten
„Fliegendes Klassenzimmer" zwischen Darmstadt und Vietnam
2022/10/10 von Astrid Ludwig
Vor zehn Jahren hat die TU Darmstadt den gemeinsamen Masterstudiengang Sustainable Urban Development an der Vietnamese-German University (VGU) in Ho-Chi-Minh-Stadt aufgebaut. Seit drei Jahren ist daraus ein Joint-Degree-Studiengang geworden, der in Darmstadt und Vietnam angeboten wird. Erstmals können nun auch TU Studierende ein Semester in Südostasien verbringen. Das Interesse an dem einzigartigen internationalen Studiengang ist groß.
Die Anfrage vor zehn Jahren kam unverhofft. Kurzfristig sprang , Professor am TU-Fachbereich Bau- und Umweltingenieurwissenschaften, 2012 als Entwickler und Koordinator des neuen Studiengangs ein. Ho-Chi-Minh-Stadt und die Vietnamese-German University reizten ihn, und „auch thematisch passt es gut“, wie er sagt. Der neu zu konzipierende internationale Studiengang sollte sich mit der nachhaltigen Entwicklung von Städten und Regionen befassen, vor allem aber mit dem Ansatz, wie sich derartige Entwicklungs- und Bauprojekte steuern und managen lassen. Hans-Joachim Linke ist Linkes Fachgebiet am Institut für Geodäsie. Landmanagement
Da die vietnamesische Uni nicht über eigene Dozenten in diesem Bereich verfügte, organisierte Linke ein Team aus Lehrkräften, die aus Darmstadt, von den Universitäten Kassel und Bonn sowie von der RWTH Aachen stammten und mehrmals im Jahr nach Ho-Chi-Minh-Stadt flogen, um an der VGU zu unterrichten. Eine Art „fliegendes Klassenzimmer“ und eine Zeit, die der Professor persönlich wie beruflich als sehr bereichernd beschreibt. Von den interkulturellen Erfahrungen habe auch seine Lehre an der TU profitiert, betont er.
Sechs Jahre lang wurde der ausschließlich in Vietnam angeboten. Sukzessive wurden Professuren vor Ort geschaffen und international besetzt. Die rund 30 Studierenden kamen jeweils aus Vietnam und dem übrigen Asien, aus Europa, Afrika oder den USA. Nach mehrjähriger Vorarbeit wurde im Wintersemester 2019/20 daraus der Studiengang Sustainable Urban Development. Joint-Degree-Studiengang SUD
„Man studiert in zwei Welten“
„50 Prozent der Lehre werden jetzt an der TU vermittelt und 50 Prozent an der VGU“, berichtet Linke. Das erste Semester – mittlerweile an der TU regulär online – verbringen Studierende dabei an ihrer jeweiligen Heimatuni. Im zweiten Semester kommen Studierende aus Vietnam nach Darmstadt und im dritten Semester wechseln TU-Studierende nach Vietnam. Am Ende des dritten Semesters steht ein gemeinsames Multidisziplinäres Projekt, danach folgt im vierten Semester die Masterthesis.
TU und VGU, sagt Professor Linke, seien die einzigen Unis weltweit, die einen Joint-Degree-Masterstudiengang mit dieser Ausrichtung anbieten. „Das ist etwas Besonderes, man studiert in zwei Welten“, unterstreicht der Professor. „Ho-Chi-Minh-Stdt, das ist ein ganz anderes Leben als in Darmstadt.“ Vielleicht ist das ein Grund, warum der Studiengang mittlerweile so beliebt ist. Von anfangs 14 TU- und 15 VGU-Studierenden schnellten die Zahlen zumindest auf Darmstädter Seite rasch nach oben. Aktuell sind es etwa 200 TU-Studenten und Studentinnen, die für SUD immatrikuliert sind.
Dieses Jahr können die Darmstädter – nach pandemiebedingtem Online-Unterricht – . Mehr als 100 Bewerbungsinterviews hat Linkes Team im vergangenen Jahr von TU-Seite für den internationalen Studiengang geführt. „Das sind die Bewerbungen, die durch die formale Prüfung durchgekommen sind“, berichtet er. 80 davon wurden angenommen, 57 sind gekommen. erstmals ein Semester persönlich in Vietnam verbringen
Der Klimawandel als treibendes Element
Bewerberinnen und Bewerber müssen einen Bachelorabschluss haben, der nicht zwingend in Bau- und Umweltwissenschaften oder Architektur abgelegt worden sein muss. „Wir suchen Studierende, die für das Thema brennen und sich auch mit einem gewissen Grundwissen einbringen können“, erläutert der Professor. „Eine große Bandbreite und Interdisziplinarität ist uns wichtig – verschiedene Ansätze und Betrachtungsweisen.“ Über Kenntnisse im Bau- und Umweltbereich, Verkehr, Transport, Wasserversorgung oder Infrastruktur sollten SUD-Bewerber*innen verfügen, „ohne jedoch spezialisiert sein zu müssen“, sagt Linke.
Der Klimawandel ist ein treibendes Element – sowohl für die Bewerberinnen und Bewerber als auch den Studiengang. Bei Sustainable Urban Development geht es um Themen wie bewohnerfreundliche Städte und Regionen, Hitze- und Hochwasserschutz, grüne und blaue Infrastrukturen. „Wir entwickeln jedoch weniger einzelne Lösungsvorschläge als vielmehr Methoden und Kompetenzen, damit die nötigen ortsspezifischen Konzepte bedarfsgerecht entwickelt und umgesetzt werden können“, erklärt Linke.
Dazu gehören nicht nur empirische Forschungsmethoden, sondern etwa auch so praktisches Wissen, wie Bürgerworkshops organisiert werden und wie die Bevölkerung mitgenommen wird. „Es sind immer die Bewohner, die sich auf Veränderungen einlassen müssen“, betont er. Ziel ist die Ausbildung internationaler Fachleute, die in Stadtentwicklungsprojekten, bei NGOs oder in der Entwicklungshilfe arbeiten können. „Es gibt einen weltweiten Markt für nachhaltige Stadtentwicklung“, sagt der TU-Professor.
International sind die Studierenden bereits – auf TU-Seite kommen sie aus Ägypten und anderen Ländern Afrikas, aus Indien, dem Iran sowie aus Südamerika und Europa. Wer das dritte Semester in Vietnam verbringt, muss allerdings 2.000 Euro Studiengebühren an der VGU zahlen. „Wir bemühen uns jedoch über den DAAD um Stipendien, die einen Teil der Kosten für Flug und Lebensunterhalt abfedern“, sagt Linke. Zuletzt konnten zwölf TU-Studierende mit einem solchen Stipendium unterstützt werden – ein weiteres Puzzlestück in der Erfolgsgeschichte des Studiengangs.