Soziale Ungleichheit durch digital erzeugtes Wissen?

Preis der Dr. Hans Messer Stiftung 2019 geht an Soziologin Bianca Prietl

22.11.2019 von

Im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung und Datafizierung gewinnen digitale Datentechnologien und algorithmische Entscheidungssysteme in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen an Bedeutung für die Produktion von Wissen. Dies hängt damit zusammen, dass eine immer größere Zahl an Aspekten des sozialen Lebens in Daten erfasst wird, die dann vernetzt und ausgewertet werden. Zunehmend werden auch Entscheidungen aufgrund dieses Wissens getroffen. Kurz: Es vollzieht sich ein tiefgreifender Wandel des Wissens und der Art, wie es entsteht.

Besonders brisant ist der Einsatz datenbasiert (selbst)lernender Algorithmen. In Deutschland finden sich diese gegenwärtig vor allem in sogenannten Entscheidungsunterstützungssystemen. Algorithmen beraten hier Personen, die Entscheidungen treffen. So ist mit digitalen Technologien erzeugtes Wissen immer häufiger auch an der Beurteilung sozialer Sachverhalte beteiligt. Damit werden diese Techniken unmittelbar relevant für soziale Partizipationsmöglichkeiten und Lebenschancen.

Digitale Wissensproduktion ist gesellschaftlich relevant

Optimistische Stimmen verbinden mit dieser Entwicklung die Hoffnung auf mehr, besseres und vorhersagbareres Wissen. Automatisierte Entscheidungstechnologien gelten als effizienter, leistungsfähiger und auch als objektiver, da vorgeblich frei von Vorurteilen oder kognitiven Verzerrungen. Doch kommen Zweifel auf: So musste Amazon ein zur Automatisierung von Personalrekrutierungen entwickeltes KI-Tool nach heftiger Kritik wieder zurücknehmen, weil es systematisch Männer bevorzugte.

2016 veröffentlichte die investigativ-journalistische Plattform ProRepublica, dass datenbasierte Risikobewertungssysteme im US-amerikanischen Strafvollzug afroamerikanischen Menschen systematisch ein höheres Rückfallrisiko attestierten als sognenannten weißen Menschen. Die Beispiele zeigen, dass digitale Wissensproduktion inzwischen Aussagen über soziale Belange trifft und gesellschaftlich hochgradig relevant ist. Digital erzeugtes Wissen kann durchaus zur Grundlage sozialer Ungleichheit werden.

Was wird zu Wissen?

Mit ihrem Habilitationsvorhaben, das nun von der Dr. Hans Messer Stiftung mit 50.000 Euro gefördert wird, zielt Bianca Prietl darauf, die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen von Digitalisierung und Wissensproduktion zu beleuchten. Sie wird erforschen, wie Digitalisierung die Art und Weise verändert, wie wir Wissen erzeugen und was wir wissen. Dabei wird es um Fragen gehen wie: Wer kann im Kontext digitaler Wissensproduktion erfolgreich beanspruchen, gültiges Wissen zu erzeugen? Wie können Wahrheitsansprüche erhoben werden? Welche Fragen können gestellt werden? Was wird zu Wissen, was nicht?

Dazu will Bianca Prietl den praktischen Einsatz digitaler Datentechnologien im deutschsprachigen Raum in drei einschlägigen Feldern im Rahmen einer empirisch-qualitativen Studie vergleichend untersuchen: in den Computational Social Sciences, die ähnlich wie die bereits arrivierteren Digital Humanities beanspruchen, neues und besseres Wissen über „das Soziale“ zu generieren als die etablierten Sozialwissenschaften; bei Personaldienstleistungsunternehmen, die Arbeit mit „algorithmic management“ automatisiert organisieren; und im Kontext von Politanalysen, bei denen aus digitalen Quellen Wissen über Einstellungen und Meinungen als Grundlage für politisches Handeln produziert wird.

Potential digitaler Datentechnologien

Das Vorhaben fällt in den Bereich Grundlagenforschung, soll aber gleichzeitig eine analytische Basis für die interdisziplinäre Entwicklung innovativer und sozial gerechter Technologien bereitstellen.

„Der Aufstieg und der zunehmende Einsatz digitaler Datentechnologien bergen das Potential, etablierte gesellschaftliche Ordnungen zutiefst zu erschüttern“, so die Preisträgerin. „Herausgefordert wird dabei nicht zuletzt auch die gesellschaftliche Stellung der Wissenschaft, wenn Internet- und Datenkonzernen zunehmend Deutungshoheit für die Produktion von besserem Wissen beanspruchen.“

Die Preisträgerin

Bianca Prietl ist seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie, Arbeitsgebiet Kultur- und Wissenssoziologie, Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften der TU Darmstadt. Sie studierte in Graz Betriebswirtschaft und Soziologie und schloss dort ihr Doktoratsstudium der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften mit Auszeichnung ab. Aktuell forscht sie aus technik- und wissenssoziologischer Perspektive im Themenfeld Digitalisierung und Datafizierung. Weitere wichtige Themen ihrer Arbeit sind Innovationsforschung, Geschlechter- und Männlichkeitenforschung, Arbeit und Technik, MINT-Fächer und Ingenieurkultur.

Die Auszeichnung

Der mit 50.000 Euro dotierte Preis der Dr. Hans Messer Stiftung wird jährlich verliehen. Er fördert die Forschung und Lehre von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern an der TU Darmstadt. Gewürdigt werden herausragende Leistungen in den Naturwissenschaften, Ingenieurwissenschaften sowie Wirtschafts-, Sozial- und Geisteswissenschaften.