Am Küchentisch angefangen

Die TU-Alumni Klaus Bollinger und Manfred Grohmann haben ein internationales Ingenieurbüro mit weltweit 400 Beschäftigten aufgebaut

21.10.2022 von

Sie haben nicht nur zusammen Bauingenieurwesen an der TU Darmstadt studiert und die WG geteilt, sondern vor 40 Jahren auch eines der renommiertesten internationalen Ingenieurbüros mit 17 Niederlassungen weltweit gegründet: Klaus Bollinger und Manfred Grohmann. Im Oktober vor 50 Jahren begannen die beiden Ingenieure ihr Studium an der damals Technischen Hochschule Darmstadt. Heute – kurz vor dem Ruhestand – blicken sie auf eine berufliche Karriere, zu deren Etappen berühmte Bauwerke wie die EZB, der Louvre in Lens oder der unterirdische Gartensaal am Städel Museum zählen, aber auch eine Vita als Hochschulprofessoren.

Professor Manfred Grohmann und Professor Klaus Bollinger

Bei diesem Ausblick lernen die Gedanken fliegen. Wenn Klaus Bollinger und Manfred Grohmann aus ihrem Büro in der vierten Etage am Westhafen schauen, schweift der Blick ungehindert über das Wasser des Mains und die Friedensbrücke rüber zum Sachsenhäuser Museumsufer. „Das Gerippte“ heißt in Frankfurt der vollverglaste, runde Büroturm, dessen geometrische Fassade an die Rauten eines Apfelweinglases erinnert. Ein spektakulärer Ort und ein Büro wie eine Fototapete. Irgendwie passend für ein Ingenieurs-Duo, das kantige, skulpturale Glasgebäude wie den UFA-Kristallplast in Dresden, die verschwenkten Türme der Europäischen Zentralbank oder das Bubble-förmige Kunsthaus in Graz mitentwickelt, ihre Tragwerke und Fassaden konstruiert hat. Zusammen mit einem internationalen Team aus 400 Mitarbeitenden weltweit. Allein in Frankfurt sitzen auf zweieinhalb Etagen des runden Westhafenturms über 120 Ingenieur:innen in offenen Großraumbüros, die gerade an aktuellen Projekten für „Bollinger+Grohmann“ arbeiten.

Die beiden Firmengründer teilen sich ein kleines Zimmer von der Form eines Kuchenstückes. „Wir sitzen schon unser Leben lang im selben Raum, Schreibtisch an Schreibtisch“, lacht Klaus Bollinger. Bollinger+Grohmann, eine Ausnahme-Büropartnerschaft. Der eine dunkelhaarig und eher der ruhige Typ, der andere extrovertierter und mit weißem Walle-Haar. Fast wie ein altes Ehepaar, aber eins, das nicht streitet. „Haben wir nie, vor allem nicht um Geld. Wir teilen ein Grundvertrauen und die gleichen Einschätzungen“, sagt Manfred Grohmann. Das ist schon seit dem 3. Semester so, als sich die beiden Bauingenieurstudenten an der damals noch Technischen Hochschule kennenlernten und anfreundeten.

Zum Studium nach Darmstadt

Bollinger kommt aus der Nähe von Stuttgart, Grohmann aus dem Taunus. 1972 begannen sie ihr Studium, ein halbes Jahrhundert ist das her. „Ich wollte unbedingt weg aus dem Schwabenland“, erinnert sich Klaus Bollinger. Bauingenieurwesen in Darmstadt oder Architektur in Berlin standen für ihn zur Wahl. In der Schule war er gut in Mathe und Kunst, im Studium entschied er sich für die eher mathematisch-technische Seite. „Darmstadt hatte einen guten Ruf“, sagt er. Das Studium, berichten sie übereinstimmend, war theoretisch, klassisch. Die Trennung zwischen Ingenieurwissenschaften und Architektur war strikt, obwohl beide sich schon damals einen fließenden Übergang zwischen den Disziplinen gewünscht hätten. Eine Zusammenarbeit, die sie seit Gründung ihres gemeinsamen Ingenieurbüros pflegen.

Die Diskussion und Auseinandersetzung mit den Architekturkollegen:innen, betont Grohmann, schärfe das Bewusstsein und bilde weiter. Die Kooperation habe ihr Verständnis von Architektur verbessert. „Und uns auch die Sprache der Architektur nähergebracht“, findet Bollinger. Sicherlich mit ein Grund für den Erfolg ihres Ingenieursbüros, das auf Tragwerksbau, Fassadenplanung, Bauphysik, Nachhaltigkeit und auch Bauen mit dem Bestand spezialisiert ist – immer in enger Abstimmung mit den jeweiligen Architekt:innen. Gestalt und Konstruktion verstehen sie als Einheit. Ihre Planungsphilosophie: Möglichst früh in die Projektentwicklung eingebunden sein. Gemeinsam kann ein Entwurf auf diese Art gestärkt oder auch weiterentwickelt werden.

Das Studium mit Vertieferrichtung Konstruktiver Ingenieurbau fiel dem jungen Studenten-Duo leicht. „Den Stoff für die Prüfungen hatten wir schnell intus“, erinnert sich Grohmann. „Ich habe gerne studiert. Wir hatten viel Freiraum“, so der TU-Alumnus. Studiert wurde noch mit Rechenschieber und Lochkarten, den Eingabedaten für die ersten Computermodelle. Früh zogen Klaus Bollinger und Manfred Grohmann zusammen in eine Wohngemeinschaft in Darmstadt. Ihr Diplom machten beide nach 13 Semester, danach gingen sie erst einmal in die freie Wirtschaft. Bollinger unter anderem zu „Krebs+Kiefer“, Grohmann ins Technische Büro des Bauunternehmens „Wayss & Freytag“. „Da konnte ich gleich anwenden, was ich im Studium gelernt hatte. Das fand ich gut“, sagt er. Für beide war jedoch früh klar, dass sie den akademischen Weg weiter einschlagen wollten. Die Vermittlung ihres Wissens in der Lehre war ihnen wichtig, vor allem eine interdisziplinäre Lehre.

Akademische Laufbahnen und Bürogründung

Klaus Bollinger kam 1981 im Zuge seiner Promotion als Assistent an die Universität Dortmund, wo man schon früh diesen interdisziplinären Ansatz im sogenannten Dortmunder Modell pflegte. Bauingenieur:innen und Architekt:innen studieren dort gemeinsam. Diese Interdisziplinarität setzte sich in seiner späteren Karriere fort. So holte etwa der Architekt Peter Cook ihn als Dozenten in den Fachbereich Architektur an die Städelschule in Frankfurt, wo er bis 2021 wiederkehrend unterrichtete. 1994 wurde Bollinger Professor für Tragwerkskonstruktion an der Universität für angewandte Kunst Wien, wo er 27 Jahre lang lehrte. „Mit der Stelle wurde ich übrigens auch österreichischer Staatsbürger“, erzählt er schmunzelnd. Auch sein Studienfreund schlug eine ähnliche akademische Laufbahn ein. 1996 wurde Manfred Grohmann Professor für Tragwerksplanung im Fachbereich Architektur der Universität Kassel. Zudem hatte er Lehraufträge an der TU Darmstadt, der Städelschule und der École Spéciale d’Architecture (ESA) in Paris. Seit 2010 ist er im Executive Council der International Association for Shell and Spatial Structures (IASS) und hat Ehrenprofessuren an der University of Nottingham und der University of Melbourne.

Aufgaben, sollte man meinen, die eigentlich für ein Berufsleben reichen. 1983 gründeten die beiden Studienfreunde dennoch parallel dazu ihr Büro Bollinger+Grohmann. „Wir wollten immer selbstständig sein“, sagt Grohmann. Die Geschichte klingt nach Garagen-Start à la Apple. „Wir haben am Küchentisch angefangen“, erinnert sich Klaus Bollinger. Dann folgte zunächst ein kleines Büro in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Darmstadt und später der Umzug nach Frankfurt. Die ersten Aufträge kamen rein, darunter auch öffentliche Bauten. Die TU-Alumni haben sich immer durch eine große Vielfalt und Offenheit ausgezeichnet. Sie haben Anbauten an Schulen geplant, Kindertagesstätten oder Wohnungsbau in Frankfurt umgesetzt, sind aber eben auch bekannt geworden durch spektakuläre Aufträge wie die EZB, das MOMA in New York, die BMW-Welt in München, das Kunsthaus in Graz, das neue Munk-Museum in Oslo oder den unterirdischen Gartensaal des Städels in Frankfurt. Gemeinsam mit Stararchitekturbüros wie Coop Himmelb(l)au, SANAA oder Zaha Hadid haben sie zahlreiche Projekte realisiert.

International erfolgreich

„Das Büro ist dabei immer mitgewachsen und internationaler geworden“, sagt Klaus Bollinger. Heute sind es rund 400 Beschäftigte in 17 Niederlassungen weltweit. Eine Zahl, über die sich die TU-Alumni immer noch selbst zu wundern scheinen. „Das hat sich schrittweise entwickelt. Wir haben nie gezielt auf ein so großes Unternehmen hingearbeitet“, sagen beide. „Meistens kommen die Menschen zu uns.“ Oft waren es Projekt-Mitarbeitende, die vorschlugen, sich Bollinger+Grohmann anzuschließen mit einer Niederlassung im Ausland. Vielleicht liegt es an der Bürophilosophie: „Wir pflegen einen menschlichen Umgang, duzen uns alle, haben flache Hierarchien.“ Und den Anspruch, interessante, neuartige, nachhaltige Projekte zusammen mit Architekt:innen umzusetzen, „die die Menschen weiterbringen“, sagt Bollinger.

Schon früh haben sie Verantwortung und Aufgaben in die Hände langjährige Mitarbeitender und heutiger Geschäftspartner:innen gelegt. 2010 haben sie ihr Büro in eine Holding umgewandelt, 2020 das Unternehmen an ihre Partner übergeben, aber eine Mehrheit behalten. 2023 wollen Klaus Bollinger und Manfred Grohmann auch diese abgeben und sich zurückziehen. „Ein so gleitender Übergang ist ein Privileg“, findet Grohmann. Und dann? Die gemeinsame Alters-WG? Ruhestand? Sie lachen. So ganz einfach fällt es nicht. Manfred Grohmann backt jetzt sein eigenes Brot und baut die Zutaten dafür im Garten an. Klaus Bollinger ist in eine Wohnung am Westhafen gezogen – mit Blick aufs Wasser…und sein langjähriges Büro. Im Oktober bei der 50-Jahr-Feier zum Studienbeginn an der TU Darmstadt werden sie jedenfalls den früheren Kommilitonen viel zu erzählen haben.