Zeitmaschine: Zum 125. Geburtstag von Karl Plagge

TH-Absolvent und „Gerechter unter den Völkern“

25.10.2022 von

Geboren wurde Karl Plagge am 10. Juli 1897 in Darmstadt als Sohn eines Arztes. Nach seinem Abitur wurde er 1916 zum Kriegsdienst eingezogen und studierte nach britischer Kriegsgefangenschaft zwischen 1919 und 1924 Maschinenbau an der TH Darmstadt. Das Studium schloss er als Chemisch-Technischer Ingenieur ab. Da Plagge keine Anstellung finden konnte, absolvierte er eine Zusatzausbildung in medizinischer Chemie an der Universität Frankfurt am Main, worauf er 1932 ein chemisch-medizinisches Untersuchungslaboratorium gründete. Ab 1933 arbeitete er bei der Maschinenfabrik Hessenwerke GmbH in Darmstadt, zunächst als beratender Ingenieur, ab 1938 als leitender Angestellter.

Geblendet von den Versprechungen der Nationalsozialisten trat Plagge 1931 der NSDAP bei. Konsterniert von der menschenverachtenden Politik des NS-Regimes nach der „Machtübernahme“ versuchte er im Rahmen seiner Möglichkeiten seinen Protest zu äußern. So übernahm er die Patenschaft des kurz nach dem Synagogensturm geborenen Sohnes des Inhabers der Hessenwerke, der mit einer „Halbjüdin“ verheiratet war, um ihn vor antisemitischen Anfeindungen zu schützen. 1936 wurde Plagge aufgefordert, die ehrenamtliche Leitung der Volksbildungsstätte der Deutschen Arbeitsfront zu übernehmen. Er weigerte sich jedoch, ideologische Vorträge zu halten, und beschränkte sich auf Inhalte seines Fachgebiets, weshalb es zu Streitigkeiten mit dem Kreisschulleiter kam.

Im Zweiten Weltkrieg wurde Plagge zunächst als Luftschutzoffizier für den Standort Darmstadt einberufen. Von der Möglichkeit, die Parteimitgliedschaft als Soldat auszusetzen, machte er Gebrauch und zahlte seit Kriegsausbruch keine Beiträge mehr. Plagge wurde nach dem Angriff auf die Sowjetunion an die Ostfront versetzt, wo er ab 1941 als Major den Heereskraftfahrpark (HKP) 562 im litauischen Wilna leitete. Die Stadt, vor Kriegsbeginn Mittelpunkt jiddischer Kultur, sollte zum Ort beispielloser Gräueltaten der Nationalsozialisten werden.

Lebensrettende Hilfe für Juden in Wilna

Um die Juden im Ghetto Wilna vor der Ermordung zu retten, stellte Plagge ihnen Arbeitsscheine aus, mit denen sie als Arbeiter mit kriegsrelevanter Tätigkeit galten, obwohl sie für die eigentlichen Aufgaben weder brauchbar noch notwendig waren. Er tarnte diese als Facharbeiter für die Kraftfahrzeuginstandsetzung. Eine Beschäftigung bei einer Dienststelle der Wehrmacht war gleichbedeutend mit dem Erhalt des eigenen Lebens. Unter dem Vorwand, die Arbeitsmoral könne nur im Umfeld der Familie hochgehalten werden, konnten auch die engsten Familienangehörigen der Arbeiter gerettet werden.

Zudem verhinderte Plagge den Transport von Zwangsarbeitern nach Deutschland. Er setzte sich auch für die Befreiung von Einzelpersonen ein, die unschuldig verhaftet wurden. Etwa 70 Juden rettete er vor der Deportation, indem er sie als unentbehrliche Arbeitskräfte deklarierte. Zudem machte er sich für eine Einrichtung einer Betriebsküche stark und sorgte für menschenwürdige Verhältnisse. Mit viel Mut ging Plagge ein enormes persönliches Risiko ein und half dadurch vielen Menschen.

Im September 1943, kurz vor der Liquidierung des Ghettos, ließ er mehr als 1.000 Juden in ein eigens für den HKP eingerichtetes Lager bringen, wo sie vorerst sicher waren. Im Juli 1944, als die sowjetischen Truppen vor Wilna standen, teilte Plagge den jüdischen Arbeitern mit, dass er und seine Einheit nicht länger für das Lager zuständig sein würden, und warnte sie vor dem Eintreffen der Schutzstaffel (SS). Dank seiner Ansprache entgingen etwa 250 Menschen dem Holocaust. Sie flohen aus dem Lager oder schufen sich Verstecke mit Vorräten und warteten auf die Übernahme durch die Rote Armee. Plagge überführte seine Einheit widerstandslos in die amerikanische Gefangenschaft.

Pearl Good, eine der Überlebenden von Wilna und Johann-Dietrich Wörner, ehemaliger Präsident der TU Darmstadt, vor der Wand der Gerechten in Yad Vashem, 2004. Good zeigt auf den Namen ihres Retters.
Pearl Good, eine der Überlebenden von Wilna und Johann-Dietrich Wörner, ehemaliger Präsident der TU Darmstadt, vor der Wand der Gerechten in Yad Vashem, 2004. Good zeigt auf den Namen ihres Retters.

Auszeichnung „Gerechter unter den Völkern“

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm Plagge erneut seine Tätigkeit in den Hessenwerken auf. Im 1947 gegen ihn eröffneten Entnazifizierungsverfahren wurde er aufgrund diverser Zeugenaussagen, die sein humanitäres Engagement und seinen steten Protest gegen das Regime bestätigten, als „Mitläufer“ eingestuft. Karl Plagge starb am 19. Juni 1957 und ist auf dem Alten Friedhof in Darmstadt beerdigt.

Auf Initiative Überlebender aus Wilna und ihrer Nachkommen auf der Suche nach Plagges Spuren erfuhr dessen mutiges Handeln im Zweiten Weltkrieg erst Ende des 20. Jahrhunderts Aufmerksamkeit und Anerkennung. 2005 erhielt er die Auszeichnung „Gerechter unter den Völkern“, eine der höchsten Ehrungen der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. Die TU Darmstadt erinnert an ihren Alumnus mit einer Gedenktafel im Alten Hauptgebäude (2003) und dem Karl-Plagge-Haus in der Alexanderstraße (Gebäude S1|22).

Der Autor ist studentische Hilfskraft im Universitätsarchiv und Masterstudent an der TU Darmstadt.

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