„Eine Jahrhundertaufgabe“

TU-Maschinenbau-Professor Steven Peters im Interview zu automatisiertem Fahren

12.07.2024

An der TU Darmstadt wird auf Spitzenniveau interdisziplinär zum automatisierten Fahren geforscht. Der Leiter des Fachgebiets Fahrzeugtechnik, Professor Steven Peters, gibt Einblick in die zukunftsweisenden Projekte, erläutert die Stärken von autonomen Fahrzeugen – und wagt eine Prognose für Darmstadt.

Professor Dr.-Ing. Steven Peters leitet das Fachgebiet Fahrzeugtechnik (FZD) am Fachbereich Maschinenbau.

Herr Peters, die TU Darmstadt ist bei der Forschung zum automatisierten Fahren stark aufgestellt. Ein anschauliches Ergebnis ist das vollautonome Fahrzeug autoELF, das sie mitentwickelt haben. Was sind weitere Forschungsschwerpunkte an der TU zum Verkehr der Zukunft?

Die autoELF ist tatsächlich in vielerlei Hinsicht ein ganz besonderes Fahrzeug. Gemeinsam mit sieben weiteren deutschen Universitäten sind im BMBF-Projekt UNICARagil unter Leitung der RWTH Aachen vier solche vollautomatischen Fahrzeuge entstanden, die für uns ganz wichtige Forschungsplattformen und Demonstratoren darstellen. An unserer TU sind mehr als zehn Fachgebiete in unterschiedlichen Fachbereichen direkt oder indirekt an den relevanten Herausforderungen des automatisierten Fahrens („Automated Driving“/AD) beteiligt – von den Rechtswissenschaften über die Regelungstechnik und KI bis zum Fahrzeug mit seiner Sensorik und der eigentlichen Fahraufgabe. Generell ist die TU Darmstadt eine großartige Uni für alle Automobilbegeisterten: Bei meinen Kollegen Christian Beidl und Stephan Rinderknecht werden die topaktuellen Fragestellungen rund um das Antriebssystem der Zukunft erforscht.

Und welche spannenden Forschungsprojekte zum automatisierten Fahren sind an der TU in nächster Zeit geplant?

Wir konzentrieren uns derzeit vor allem auf zwei Anwendungsfälle: automatisierte Lkw und automatisierte Shuttle zur Unterstützung / Ergänzung des ÖPNV in Randzonen und -zeiten.

Worin bestehen aus Ihrer Sicht die Vorteile von autonomen Fahrzeugen, etwa mit Blick auf die Umwelt, den Straßenverkehr oder die Sicherheit?

Ich glaube nicht, dass automatisiertes Fahren die Sicherheit erhöht, denn das schaffe ich wahrscheinlich leichter, wenn wir die Assistenzsysteme immer weiterentwickeln, den Menschen aber nie aus dem aktiven Loop nehmen. Es geht bei AD viel mehr darum, dass wir trotz Fachkräftemangel weiterhin funktionierende Logistikketten und einen ÖPNV haben. Schauen Sie sich Darmstadt an: Heute schon hat die Stadt immer mal wieder Probleme, genügend Personal für den ÖPNV zu finden.

Beim autonomen Fahren spielt Künstliche Intelligenz (KI) eine große Rolle. Welche besonderen Herausforderungen stellen sich hier, etwa angesichts der hohen Komplexität des Straßenverkehrs und der Risiken?

Automatisiertes Fahren ist die härteste Aufgabe für eine KI. Die KI arbeitet dort mit Daten aus der komplexen, dynamischen und offenen Welt und muss mehrmals pro Sekunde sicherheitsrelevante Klassifikationen durchführen – und damit ohne die Chance, sich noch einmal ein Feedback von einem Menschen einholen zu können. Wenn wir das meistern, können wir jede andere KI-Aufgabe auch knacken – es ist jedoch eine Jahrhundertaufgabe und nichts, was in ein paar Jahren erledigt ist.

Wo steht Deutschland Ihrer Einschätzung nach im internationalen Vergleich beim autonomen Fahren?

Die deutsche Automobilindustrie – vor allem die Premiumhersteller Mercedes und BMW – sind ganz klar in der Weltspitze mit dabei. Sie sind die weltweit einzigen, die derzeit sogenannte Level-3-Fahrzeuge an private Kunden verkaufen. Bei diesen Fahrzeugen dürfen Sie bereits in eng definierten Bedingungen die Verantwortung für die Fahraufgabe an das Auto abgeben und sich von dieser Aufgabe abwenden, müssen aber jederzeit übernahmebereit sein, wenn Sie dazu aufgefordert werden. Das US-Unternehmen Waymo ist in ausgewählten (sonnigen) Städten im Süden der USA noch einen Schritt weiter und fährt dort ohne Sicherheitsfahrer, aber in einem Operatorbetrieb, das heißt die Fahrzeuge verbleiben bei Waymo und werden nicht an Dritte verkauft.

Wie schätzen Sie die Akzeptanz der Öffentlichkeit für autonome Fahrzeuge ein? Überwiegen Ihrer Erfahrung nach eher Aufgeschlossenheit oder Skepsis?

Das Interesse ist nach wie vor riesig, und unsere eigenen Studien rund um Darmstadt gemeinsam mit den Kolleg:innen der Arbeitswissenschaften zeigen, dass es in Sachen Sicherheit ein großes Vertrauen in die deutschen Hersteller gibt und dass dieses sogar steigt, wenn man die ersten Fahrzeuge mit Level-3-Systemen einmal gefahren ist.

Wann und wo erwarten sie Durchbrüche bei der Anwendung?

Wir erhoffen uns Durchbrüche bei der Sensorik – zum Beispiel kann heute nach unserem Kenntnisstand weltweit niemand bei Schneefall automatisiert fahren. Außerdem ist der Energiebedarf der Rechner, die die Sensorrohdaten in hoher Frequenz im Fahrzeug verarbeiten müssen, noch deutlich zu hoch.

Ihre Prognose: Wann werden wir Robotertaxis durch Darmstadt rollen sehen?

Wenn Sie meinen, dass das ganz ohne Sicherheitsfahrer und im kompletten Stadtgebiet im normalen Verkehr bei jedem Wetter bei Tag und Nacht funktionieren soll, dann ist meine feste Prognose: nicht mehr in diesem Jahrzehnt. Das liegt auch daran, dass der Nachweis der Sicherheit, den man natürlich vorab erbringen muss, extrem aufwändig ist und nach heutigem Wissensstand alleine mehrere Jahre dauert.

Die Fragen stellte Michaela Hütig.

Starke Forschung zum Verkehr der Zukunft

An der TU Darmstadt wird interdisziplinär und auf Spitzenniveau zum automatisierten Fahren geforscht. Direkt beteiligt sind unter anderem Teams um die folgenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler:

Professor Dr.-Ing. Steven Peters, Leiter des Fachgebiets Fahrzeugtechnik (FZD)

Dr.-Ing. Bettina Abendroth, kommissarische Leiterin des Instituts für Arbeitswissenschaft (IAD)

Professor Dr.-Ing. Jürgen Adamy, Leiter des Fachgebiets Regelungsmethoden und Intelligente Systeme (RIS)

Professor Dr.-Ing. Rolf Findeisen, Leiter des Instituts für Automatisierungstechnik und Mechatronik (IAT)

Professorin Eva Kaßens-Noor. Ph.D., Leiterin des Instituts für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik (IVV)

Professor Dr.-Ing. Andreas Oetting, Leiter des Instituts für Bahnsysteme und Bahntechnik (BST)

Professor Jan Peters, Ph.D., Leiter Intelligent Autonomous Systems (IAS)

Professor Dr.-Ing. Stephan Rinderknecht, Leiter des Instituts für Mechatronische Systeme (IMS)

Professorin Dr. iur. Janine Wendt, Leiterin des Fachgebiets für Bürgerliches Recht und Unternehmensrecht (BRUR)

Positionspapier von TU-Forschenden zum automatisierten Fahren (wird in neuem Tab geöffnet)

Themenschwerpunkt „Automatisiertes Fahren“ in der aktuellen Ausgabe der hoch³