Nicht ohne den Pfeilgiftfrosch

Komplexe Ökosysteme im Regenwald wieder herstellen

29.06.2021 von

Eine Forschungsgruppe um Professor Nico Blüthgen von der TU Darmstadt untersucht, wie die Natur zerstörten Regenwald zurückerobert. Einzelne Arten zeigen am Ende, wie gut die Regeneration gelungen ist.

Stopp! Die schrille Färbung des Pfeilgiftfroschs zeigt seinen Feinden unmissverständlich an, dass er keine erfreuliche Beute sein wird. Sein Gift erhält er von den Ameisen oder Milben, die er selbst frisst. „Wenn wir im tropischen Regenwald Ecuadors auf den Pfeilgiftfrosch stoßen, wissen wir, dass wir es mit einem komplexen Ökosystem zu tun haben“, sagt Nico Blüthgen, Professor für Ökologische Netzwerke an der TU Darmstadt. „Diese Drohkulisse aus schriller Färbung und angeeignetem Gift steht für eine hochspezialisierte Räuber-Beute-Beziehung, die nur in einem komplexen und engmaschigen Ökosystem funktioniert. Und je komplexer ein solches System ist, desto widerstandsfähiger ist es auch. Und genau da wollen wir mit der natürlichen Regeneration verödeter Fläche hin.“

Der Weg zum Wiederaufbau des Ökosystems

Blüthgen steht an der Spitze eines aus zwölf Universitäten und Stiftungen bestehenden Konsortiums, das wissen will, wie sich die Natur Brachflächen im Regenwald zurückerobert. Welche Arten treten zuerst wieder auf? Wie lange dauert die natürliche Regeneration? Wird die alte Artenvielfalt wieder erreicht? Werden alle komplexen Beziehungen wieder aufgenommen? Wie nahe kommt das neue Ökosystem an die Funktionalität des alten Ökosystems heran? Blüthgen und den Teammitgliedern geht es nicht um eine bloße Inventur, sondern um das Vermessen von Komplexität in den Tiefen des wieder aufkeimenden Regenwalds. Eigentlich ist das ein natürlicher Prozess, denn Flächen sind immer wieder durch Naturkatastrophen zerstört worden und haben sich erholt. Aber niemand weiß so genau, wie nahe sie dabei an die Ausgangssituation herangekommen sind.

Heute ist jedoch vieles anders. Ökosysteme verschwinden in rasantem Tempo und in großen Kahlschlägen. In jeder Minute gehen im tropischen Regenwald Gebiete in der Größe von zehn Fußballfeldern verloren. Die Rate, mit der Lebewesen aussterben, hat sich in den vergangenen hundert Jahren verdreifacht. „Wir verstehen noch zu wenig von der Funktionalität eines Ökosystems, um es einfach wieder aufbauen zu können“, sagt Blüthgen. „Wir haben kein Drehbuch für die schnelle Reparatur. Wir müssen zudem besser verstehen, wie die sich die Natur selbst regeneriert und was dabei passiert. Erst dann können wir gezielt eingreifen“, so Blüthgen weiter. „Wenn Sie mich also fragen, ob wir auf die Herausforderungen einer Renaturierung unseres Planeten vorbereitet sind, lautet meine Antwort: Derzeit nein. Wir wissen einfach noch zu wenig.“ Aufforstung allein reicht Blüthgen nicht. Ihm geht es um die Wiederherstellung von Komplexität und damit um die Resilienz eines Ökosystems – auch gegenüber dem Klimawandel. Die Vereinten Nationen werden sich diesem Anliegen ebenfalls verstärkt annehmen und haben die nächsten zehn Jahre zur Dekade der „Ecosystem Restoration“ erklärt.

Wir müssen besser verstehen, wie die sich die Natur selbst regeneriert und was dabei passiert.

Was haben Blüthgen und das internationale Team genau vor? Die Forschenden werden in den kommenden vier bis acht Jahren 62 Flächen im Chocó-Tieflandregenwald im Nordwesten Ecuadors untersuchen. Diese Flächen wurden eine Zeit lang als Weideland oder für den Kakaoanbau genutzt, dann aber aufgegeben. Einige dieser Flächen regenerieren schon seit zwanzig oder dreißig Jahren ohne äußeres Zutun, andere haben gerade erst damit begonnen. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen werden wichtige Prozesse in den Blick nehmen: die Beziehungen zwischen Räuber und Beute, zwischen Bäumen und Bestäubern, zwischen Säugern, Samen und Dungkäfern und zwischen Ameisen, Termiten und Totholz – um nur einige zu nennen.

Gefördert die Forschungsgruppe „REASSEMBLY“ von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Vor Ort wird das Konsortium von der gemeinnützigen Stiftung Fundación Jocotoco und zwei Universitäten des Landes unterstützt werden. Die Stiftung kauft seit 20 Jahren Flächen in der Region, die dann sich selbst überlassen werden. Ein Teil der Fördersumme wird auch in die Ausbildung von ecuadorianischen Studierenden und den Aufbau lokaler Strukturen fließen.

Der Untersuchungsprozess der natürlichen Regeneration

Dass die Wahl auf Ecuador gefallen ist, hat verschiedene Gründe: „Die dortigen Bedingungen sind exzellent“, sagt Blüthgen. „Die Flächen liegen direkt neben einem Regenwald, der ein gutes Reservoir für den natürlichen Wiederaufbau bietet. Der Regenwald ist im Chocó-Tiefland zudem besonders produktiv. Alles wächst sehr schnell. Tiere sind reichlich vorhanden, die die Samen der Bäume wieder ausbreiten. Damit haben wir gute Chancen, innerhalb weniger Jahre auch tatsächlich viele unserer Fragen beantworten zu können. Durch den Blick auf die verschiedenen Regenerationszeiten, in denen sich die einzelnen Flächen befinden, können wir auch etwas über die Geschwindigkeit des Prozesses sagen.“

Die Anwesenheit des Pfeilgiftfroschs ist für Blüthgen und das Team ein wichtiger Indikator für die Komplexität des zurückgekehrten Regenwalds. Ein weiterer Indikator sind Dungkäfer. Diese vergraben Kot und die darin enthaltenen Samenkörner, die dann auskeimen. Allerdings machen sich Dungkäfer nur über den Kot von Säugetieren her. Wenn es in einem Ökosystem viele Dungkäfer gibt, muss es auch ausreichend viele Säugetiere geben, die Samen mit ihrem Kot ausscheiden. Welche das tatsächlich sind, ermitteln die Wissenschaftler, indem sie die DNA aus den Mägen der Dungkäfer analysieren. Diese kann zum Beispiel von fruchtfressenden Brüll- oder Krallenaffen stammen, aber auch von einem Puma oder Jaguar. Letztere spielen vor allem nachts eine wichtige Rolle als Räuber. Die Mägen der Pfeilgiftfrösche werden auf die gleiche Weise analysiert werden. So lässt sich aus der gefundenen DNA ein ganzes Netzwerk an Räuber-Beute-Beziehungen ableiten, weil das Vorhandensein der einen Art immer auch das Vorhandensein anderer Arten voraussetzt.

Bestäubung ist ein weiterer wichtiger Prozess. Um mehr darüber zu erfahren, werden Blüthgen und seine Forschungsgruppe Tiere in einer Lichtfalle fangen und die anhaftenden Pollen analysieren. Ein DNA-Test wird wieder Auskunft über die Identität der einzelnen Pollen geben. Daraus können die Wissenschaftler dann auf die Tiere schließen, die die jeweiligen Pflanzen bestäubt haben. Sie müssen dafür nicht in die Baumwipfel des Regenwalds klettern und sich dort umsehen. Sie finden die Antworten ganz einfach am Boden.

Auf den unterschiedlich weit regenerierten Flächen sollen auch Störungsexperimente gemacht werden, um zu prüfen, wie stabil die neu entstandenen Netzwerke sind. Dazu werden die Forschenden den gesamten Boden in acht mal acht Meter großen Arealen freiräumen und nur die Bäume stehenlassen. Dann werden sie verfolgen, wie sich die Natur diese Areale zurückerobert. „Wir vermuten, dass dieser Prozess schneller verläuft, wenn die kleine Fläche zu einer Einheit gehört, deren natürliche Regeneration schon sehr weit fortgeschritten ist und nicht erst am Anfang steht“, sagt Blüthgen.

Bei diesen Experimenten schauen wir nicht allein auf die Komplexität des wiederaufkeimenden Ökosystems, sondern auf das Wechselspiel zwischen der jahrzehntelangen Regeneration mit seinen immer komplexer werdenden Netzwerken und der kurzfristigen Erholung kleinräumiger Störungen.

Blüthgen und das Team sind sich der Tragweite ihrer Untersuchungen sehr bewusst. „Letztlich hängt unser eigenes Überleben vom Überleben der globalen Ökosysteme ab. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren, wenn wir die natürliche Regeneration gezielt stärken wollen.“

Die Autorin ist Wissenschaftsjournalistin und promovierte Biologin.

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