Die Zusammenhänge von Literatur, Kultur und Ökonomie
Athene Young Investigator Lisa Wille beschäftigt sich mit der Gegenwart – und erforscht dafür die Vergangenheit
03.07.2024 von Astrid Ludwig
Wie haben die Literatur und das Bürgertum des 18. Jahrhunderts unser heutiges Verständnis von Individualität, Einzigartigkeit und auch Geschlecht geprägt? Wie haben Amerikanisierung und US-amerikanische Konsumkultur seit der Weimarer Republik unsere Gesellschaft beeinflusst? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Dr. Lisa Wille in ihrer Forschung. Die neue Athene Young Investigator verfügt zudem über einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften.

Geisteswissenschaft und Ökonomie? Zwei Studienrichtungen, die auf den ersten Blick nicht unbedingt zusammenpassen. Für war das jedoch kein Hindernis. Sie hat in Kassel erst Germanistik, Philosophie und Kunstwissenschaft studiert und dann parallel dazu noch Wirtschaftswissenschaften belegt. „Literatur- und Kulturgeschichte haben mich immer schon interessiert, doch ökonomische Denkprozesse bedingen unseren Alltag und sind allgegenwärtig. Ich wollte daher die wirtschaftlichen Zusammenhänge verstehen, die natürlich auch die Bereiche Literatur und Kultur beeinflussen“, sagt die 37-Jährige. Das Doppelstudium eröffnete ihr in persona einen sehr interdisziplinären Blick auf ihr Forschungsgebiet. Eine Art Alleinstellungsmerkmal, das die TU Darmstadt nun mit der Dr. Lisa Wille unterstützt. Athene Young Investigator-Förderung
Wille ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am am Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften. Ihre breitgefächerten Themen spiegeln sich in ihren Forschungsschwerpunkten wider. „Ich arbeite vor allem kulturwissenschaftlich“, betont sie. Schon seit ihrer Promotion 2019 an der TU Darmstadt beschäftigt sich die junge Wissenschaftlerin mit der Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts, mit Aufklärung, Sturm und Drang und Empfindsamkeit; insbesondere mit der bürgerlichen Identitätsproblematik dieser Zeit. Untersucht hat sie diese in ihrer Doktorarbeit anhand der sozialkritischen Dramen von Heinrich Leopold Wagner, einem Jugendfreund Goethes. Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft
Die Entstehung der modernen Individualität
„Wir alle definieren uns heute als einzigartig und individuell. Begriffe wie Identität oder Individualität sind für uns – vermeintlich – völlig klar. Entstanden ist diese Vorstellung von Einzigartigkeit aber erst im 18. Jahrhundert“, erklärt sie. In der Literatur ließen sich diese Entstehungsprozesse gesellschaftlicher Denkformen gut nachvollziehen. In Wagners Dramen wie „Die Reue nach der Tat“ oder „Die Kindermörderin“ etwa zeige sich der Zwiespalt zwischen bürgerlichen Freiheitsansprüchen und gesellschaftlicher Unterdrückung besonders deutlich.
Thematisch passt dazu ein weiterer Schwerpunkt – die literaturwissenschaftliche Geschlechterforschung, die Wille ebenfalls historisch breit untersucht. Gemeinsam mit der Germanistikprofessorin Franziska Schößler hat sie ein Studienbuch verfasst, das sich mit der Geschlechtergeschichte seit dem 18. Jahrhundert bis heute beschäftigt und in interdisziplinäre Theorien und Methoden der Gender Studies einführt. „Mich hat früh interessiert, wie heutige und damalige Gesellschaften konstituiert sind und welche Bezüge sich erkennen lassen. Welche historischen Wandlungsprozesse gibt es? Nach welchen Wert- und Normvorstellungen handeln wir heute? Und welches Wissen hält für diese Fragen die Literatur bereit?“, betont sie.
Amerikanisierung im 20. Jahrhundert
In ihrem aktuellen Forschungsprojekt rücken wirtschaftliche Aspekte und das Spannungsfeld Literatur, Kultur und Ökonomie in den Mittelpunkt. So widmet sie sich der Amerikanisierung im 20. Jahrhundert im Spiegel der Konsumkultur, die maßgeblich auch über den Literatur- und Kulturbereich transportiert wurde. Unter Amerikanisierung versteht die Forscherin den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Einfluss der USA auf ein anderes Land, und das verbunden mit der Übernahme und Adaption US-amerikanischer Ideen, Werte, Güter und Verhaltensweisen.
Für Deutschland nimmt sie dafür den Zeitraum der Weimarer Republik bis nach dem Zweiten Weltkrieg in den Blick. Während der 1920er und 30er Jahre haben Massenkultur und -konsum Einzug in die Gesellschaft gehalten, was sich beispielsweise im Kino oder in Form erstmals aufkommender Beststellerlisten in der Literatur gezeigt habe. Nach 1945 wurde dann durch die alliierte Besatzungspolitik der „American Way of Life“ populär gemacht. In diesem Zusammenhang seien etwa Amerika-Häuser entstanden, die der deutschen Gesellschaft die US-Kultur näherbringen sollte. „Nicht zu vergessen ist die erfolgreiche Amerikanisierung über die Populärkultur, als eine intensive Bewegung ‚von unten‘“, erklärt Wille. Das geschah unter anderem durch Hollywood, Elvis und den Rock ’n’ Roll.
Mehrmonatige Gastaufenthalte im Rahmen des Ernst-Ludwig-Mobilitätsstipendiums an der Georgtown University in Washington, DC, und an der University of British Columbia in Vancouver halfen der Germanistin, ihre Forschung zu diesem Thema, aber auch im Hinblick auf ihre Gender Studies weiterzuentwickeln und ein transatlantisches Netzwerk auszubauen. „Der Forschungsaufenthalt ist bis heute fruchtbar und hat nachhaltige Projekte und Kooperationen entstehen lassen“, betont Wille, die auch als Stipendiatin in alle drei Förderprogramme von Mentoring Hessen aufgenommen wurde.
Ziele und zukünftige Projekte als Athene Young Investigator
Die Förderung als Athene Young Investigator sieht die 37-Jährige nun als eine „großartige Möglichkeit, meine Forschungsthemen sichtbarer zu machen“. Sie will ein Forschungsprojekt beantragen, eine internationale Tagung initiieren sowie eigenverantwortlich eine Nachwuchsgruppe aufbauen und ab Sommer ihre erste Doktorandin betreuen. Die , der Verbund der TU Darmstadt mit der Frankfurter und der Mainzer Universität, biete gute Anknüpfungspunkte an ihre Forschungsthemen. Zudem wird sie an ihrer Habilitation weiterarbeiten. „Mein Ziel ist eine Professur“, sagt sie. „Die Auszeichnung als Athene Young Investigator ist auf diesem Weg ein wichtiger Meilenstein.“ RMU-Allianz
Das Programm Athene Young Investigator
Das der TU Darmstadt soll herausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fünf Jahre lang auf ihrem Karriereweg unterstützen. Ziel ist es, die frühe wissenschaftliche Selbstständigkeit der Nachwuchsforschenden zu fördern und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, sich durch die eigenverantwortliche Leitung einer Nachwuchsgruppe für die Berufbarkeit als Hochschullehrerin beziehungsweise Hochschullehrer zu qualifizieren. Die Nachwuchsgruppenleiterinnen und -leiter werden mit bestimmten professoralen Rechten und einem eigenen Budget ausgestattet. Programm Athene Young Investigator (AYI)
Die TU Darmstadt hat 2024 weitere drei exzellente junge Forschende als Athene Young Investigators ausgezeichnet. In den kommenden Wochen werden wir die drei Forschenden im Webauftritt der TU Darmstadt vorstellen.