Aus der Nische zu internationalem Ruhm
50 Jahre Fachbereich Informatik: Interview mit Emeritus Professor Wolfgang Bibel
20.05.2022 von Astrid Ludwig
Er gilt als einer der zehn führenden Köpfe der deutschen KI-Geschichte. Wolfgang Bibel, emeritierter Professor der TU Darmstadt, hat als einer der ersten Wissenschaftler in Deutschland auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz geforscht und sich internationale Anerkennung erworben. Als Professor für Intellektik und Experte für Deduktion hat er den Fachbereich Informatik der Technischen Universität, der 50jähriges Bestehen feiert, zwei Jahrzehnte lang mitgeprägt und den Grundstein für dessen Spitzenstellung in der KI-Forschung gelegt.
Das Lob kam von höchster Stelle. „Das Lebenswerk von Wolfgang Bibel gehört zum Allerbesten, was die deutsche KI-Forschung hervorgebracht hat“, erklärte Prof. Wolfgang Wahlster in seiner Laudatio zum 80. Geburtstag Bibels. Wahlster ist nicht irgendwer: Er ist Mitglied der Nobelpreis-Akademie in Stockholm, Gründungsdirektor des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz und Ehrendoktor der TU Darmstadt. Die Rede auf den Kollegen und Freund hielt der Informatiker 2018 in Darmstadt. Denn seinen Geburtstag feierte der Emeritus natürlich nicht mit Sekt und Häppchen im ruhigen Kreis, sondern mit einem Symposium zur Zukunft der KI-Forschung, an dem über hundert Wissenschaftler*innen teilnahmen.
Nicht zu bremsen
Wolfgang Bibel ist Forscher durch und durch. Obwohl inzwischen über 83 verbringt der langjährige TU-Professor seine Zeit im Ruhestand keineswegs nur damit, vorbeifliegende Rotmilane oder das Bergpanorama vor dem Fenster in seiner Wahlheimat am Bodensee zu beobachten. „Ich bin bis heute noch voll beschäftigt“, erzählt er lachend. Vielleicht etwas weniger als früher, aber die Zahl seiner jährlichen Publikationen kann sich noch immer an der vieler berufstätiger Kollegen messen. Gerade einen Tag zuvor hat die Computerfachzeitschrift „Informatik-Spektrum“ zugesagt, Bibels neueste Arbeit zu veröffentlichen. Im Mai wird er an einer Konferenz der Humboldt-Universität in Berlin teilnehmen und in den vergangenen Jahren war der KI-Experte vielfach Redner auf Tagungen, etwa in Brasilien oder Washington. „Ich habe meinen Lebensweg gefunden, von dem mich auch mein Alter nicht abbringen kann“, scherzt er.
Für den gebürtigen Nürnberger ist Forschung „die Fortsetzung des kindlichen Drangs nach neugieriger Erkundung der umliegenden Welt“. Und die bedeutet für Wolfgang Bibel vor allem eine Welt, die durch die Erfindung des Computers revolutioniert wurde und so Künstliche Intelligenz möglich machte. „Über alles sinnlich nicht Wahrnehmbare gab es vorher ausschließlich Spekulationen. Dazu gehören alle Informationsprozesse, die überall in der Natur in unterschiedlichster Ausprägung vorhanden sind. Sei es bei Bienen und ihrer Bienentanzsprache oder bei uns Menschen mit all unseren psychischen und geistigen Fähigkeiten.“ Erst der universelle Computer, so Bibel, habe die Möglichkeit einer naturwissenschaftlichen Erforschung dieses großen Bereichs in der Natur geschaffen. KI sieht der Ex-TU-Professor daher nicht als eine technische, sondern vor allem eine naturwissenschaftliche Disziplin, weshalb er seinen TU-Lehrstuhl „Intellektik“ nannte.
Genialer Forscher
Der KI-Pionier ist ein Experte der Deduktion. Die von ihm entwickelte Konnektionsmethode, die es Computern ermöglicht, automatisch korrekte logische Schlussfolgerungen in sehr kompakter Weise zu ziehen, zählt heute zu den Grundlagen der Informatik. Seine Arbeiten zum automatischen Beweisen, zur automatischen Programmsynthese, Logik-Programmierung, Wissenspräsentation, stochastischer Suche und zum Planen gehören zu den großen fachlichen Leistungen, mit denen er die KI auch in Darmstadt geprägt hat. Sein Kollege Wolfgang Wahlster, selbst einer der führenden KI-Köpfe, bezeichnet Bibel als „genialen Forscher“. 1990 wurde er als erster Deutscher zum „Fellow der American Association for Artificial Intelligence“ ernannt. Ein Ritterschlag. Der emeritierte TU-Professor hat 21 Bücher geschrieben, über 300 Publikationen, hat KI-Verbände und Organisationen in Deutschland und Europa mitbegründet und zahlreiche Preise erhalten, darunter den Herbrand Award für seine wissenschaftliche Leistung.
Dabei war der Weg zum internationalen Ruhm steinig. Wolfgang Bibel kam erstmals 1985/86 als Vertretungsprofessor an den Fachbereich Informatik der Technischen Hochschule Darmstadt, wie die TU damals hieß. Auf Initiative eines Kollegen unterrichtet er ein halbes Jahr am vakanten Lehrstuhl für Informationssysteme, auf den er sich anschließend – nach entsprechender Ermunterung – bewarb. „Danach hörte ich monatelang nichts“, erinnert er sich. Als ihm die University of British Columbia (UBC) im kanadischen Vancouver 1987 eine Professur anbot, griff er daher sofort zu. Eine Traumstelle in einer Traumstadt. „Als ich vier Wochen dort war, kam die Zusage aus Darmstadt“, erzählt Bibel.
Von Vancouver nach Darmstadt
Trotz Traumausstattung in Kanada wechselte der Forscher von Vancouver nach Darmstadt. Seine Familie war in Deutschland geblieben und an der TU hatte er nunmehr eine gute „Verhandlungsposition“. Er erhielt eine „sehr gute Ausstattung“ an seinem neuen Fachgebiet Intellektik. „Ich konnte mir eine Nische aufbauen.“ Viele Jahre hatte Bibel auf eine Professur warten müssen. Als Student hatte er zunächst Physik studiert, wechselte dann zur Mathematik und promovierte in mathematischer Logik. In seiner Anfangszeit als Student sei er ein „Suchender“ gewesen, der zwischen den Disziplinen pendelte, bis er zu seiner Bestimmung, der Künstlichen Intelligenz, fand. Er wurde wissenschaftlicher Ober-Assistent am Institut für Informatik an der TU München, wo er unglücklicherweise auf einen Professor stieß, der die KI, damals das Schmuddelkind der Informatik, ablehnte und Bibels Habilitationsschrift scheitern ließ.
Mehrere Jahre harrte er – wenn auch forscherisch erfolgreich – in München aus, bevor seine Karriere in Darmstadt Fahrt aufnahm. Dabei lief es dort am Fachbereich „nicht besonders harmonisch ab, als ich ankam“, erinnert er sich. Großforschungseinrichtungen und spätere Fraunhofer-Institute spielten eine sehr große Rolle. Die Informatik war auf zwei Fachbereiche – die Regelungs- und Datentechnik und Informatik – verteilt, die sich nicht immer sonderlich grün waren. KI war damals nirgendswo vertreten. Nach dem neuesten Stand der Technik ausgestattet, gelang es Wolfgang Bibel, „seine Nische“ in kurzer Zeit als größten Lehrstuhl – abgesehen von den Fraunhofer-Instituten – zu etablieren.
Seine Vorlesungen waren modern, er führte einen amerikanischen Klausurbetrieb mit Zwischenprüfungen ein, die seinen Studierenden mehr Überblick geben und sie zu Leistung motivieren sollten. Als Dekan engagierte er sich für Neuerungen, für professionellere Managementstrukturen und organisierte Informatik-Kolloquien mit Vorträgen von Legenden wie Konrad Zuse. Ein Erfolg wurde das Graduiertenkolleg „Intelligente Systeme für die Informations- und Automatisierungstechnik“. Als entscheidende Momente beschreibt er die Berufung von Professor Johannes Buchmann, bedeutender Kryptologe und IT-Sicherheitsexperte, sowie die Reservierung des Zintl-Institutes als neues FB-Gebäude ausschließlich für die Informatik.
Prägende Einflüsse auf TU-Fachbereich Informatik
Seine Position festigte Bibel weiter, als er 1992 einen Ruf nach Wien erhielt und sich nach erfolgreichen Bleibeverhandlungen mit dem TU-Präsidium erneut für Darmstadt entschied. Auf diese Weise konnte er die Ausstattung seines Fachgebietes abermals erweitern. Als Initiator und Koordinator gelang es ihm, das Schwerpunktprogramm Deduktion zu etablieren, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit rund 20 Millionen Mark gefördert wurde. „Für die TU war das damals ein noch recht seltenes Aushängeschild.“ International initiierte er ein Austauschprogramm für exzellente Studierende mit der UBC in Vancouver, der er bis zur Pensionierung als Adjungierter Professor verbunden blieb. Sein Fachgebiet erlangte internationales Ansehen und trug zum wachsenden Ansehen der Darmstädter Informatik bei. Die Qualität des heutigen Fachbereiches schätzt Wolfgang Bibel als hervorragend ein. „Er gehört zweifelsohne zu den führenden deutschen Informatikfachbereichen.“
Künstliche Intelligenz am Fachbereich heute
Heute ist Künstliche Intelligenz einer der Forschungsschwerpunkte des Fachbereichs Informatik und verbindet die KI-Grundlagenforschung mit den Anwendungen in der Technik. Die KI-Forschung an der TU Darmstadt gilt als exzellent und ist international hoch anerkannt.
Der Forschungsschwerpunkt Künstliche Intelligenz wird sowohl durch neue Forschungsinstitutionen, wie. das (Direktion: Prof. Kristian Kersting und Prof'in Mira Mezini) und die Hessische Zentrum für Künstliche Intelligenz hessian.AI (Unit Director: Prof. Stefan Roth), beantragte und genehmigte Verbundprojekte, wie der LOEWE-Schwerpunkt ELLIS Unit Darmstadt (Sprecher: Prof. Kristian Kersting und Prof. Constantin A. Rothkopf), unabhängige Nachwuchsgruppen, wie die WhiteBox von Prof. Georgia Chalvatzaki und die Emmy Noether-Gruppe iROSA von Dr. Dorothea Koerth sowie mehrere der angesehenen BMBF-geförderte Forschungsgruppe IKIDA getragen. ERC Grants