Allianz mit dem NS-Regime

1931

Im Wintersemester 1930/31 sind 2.822 Studierende eingeschrieben. Bei den AStA-Wahlen wird der NS-Studentenbund mit 46 Prozent der Stimmen erstmals stärkste Kraft.

ab 1933

Die TH Darmstadt rückt, wie andere Technische Hochschulen auch, in den Fokus des NS-Regimes, das einen „autarken Wehrstaat“ anstrebt. Die Rüstungsforschung, insbesondere die Luft- und Kraftfahrtforschung, wird massiv gefördert. Es entsteht eine Allianz zwischen Wissenschaft, Industrie und Militär im Rahmen einer aktiven nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, die Technikwissenschaften und Technische Hochschulen privilegiert.

Die heutige Hochschulstraße mit dem Alten Hauptgebäude (links) zur Zeit des Nationalsozialismus.
Die heutige Hochschulstraße mit dem Alten Hauptgebäude (links) zur Zeit des Nationalsozialismus.

Vor diesem Hintergrund ist der Ausbau der Infrastruktur und Forschungsförderung an der TH zu verstehen. Vorrangig geht es um die Optimierung von Waffensystemen, Sicherstellung kriegswichtiger Nahrungsmittelversorgung und Verbesserung der Rohstoffgrundlagen. Spätestens im Zweiten Weltkrieg sind die Hochschulen weit über bloße Kooperation oder Kollaboration hinaus elementarer Bestandteil des NS-Gewaltapparats.

1933

Aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ werden in Darmstadt 13 Professoren entlassen oder zum Rückzug in den Ruhestand gezwungen – beinahe jeder fünfte der 54 Ordinarien und 10 Extraordinarien; und rund ein Fünfzehntel der Privatdozenten. Am stärksten betroffen sind Architektur, Chemie und Physik. Studierende sind eine treibende Kraft bei der Entlassung politisch missliebiger Dozenten.

Karl Emil Lieser, Assistent an der Fakultät für Architektur und soeben der NSDAP beigetreten, beschwert sich beim Rektor über die „geistige Verjudung“ der Fakultät. Die darauf folgende Entlassung Liesers führt zu Tumulten der nationalsozialistischen Studentenschaft. Lieser wird durch den Reichsstatthalter Jakob Sprenger wieder eingesetzt.

Feierstunde zum 100-jährigen Jubiläum der TH Darmstadt am 28. Mai 1936 in der Städtischen Festhalle Darmstadt. Im Vordergrund von links nach rechts: Prof. Karl Lieser, Prof. Friedrich Hübener, 1934-37 Rektor der TH Darmstadt, sowie Ministerialrat Prof. Dr. Bacher als Vertreter des Reichsministeriums für Erziehung.
Feierstunde zum 100-jährigen Jubiläum der TH Darmstadt am 28. Mai 1936 in der Städtischen Festhalle Darmstadt. Im Vordergrund von links nach rechts: Prof. Karl Lieser, Prof. Friedrich Hübener, 1934-37 Rektor der TH Darmstadt, sowie Ministerialrat Prof. Dr. Bacher als Vertreter des Reichsministeriums für Erziehung.

Das „Gesetz gegen Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ senkt mit Sonderquoten für „Nichtarier“ und Frauen die Studierendenzahlen. Die Hochschule wird im nationalsozialistischen Sinne umgestaltet und nach dem Führerprinzip organisiert.

1935

Lieser wird Prorektor.

1937

Lieser wird ordentlicher Professor und Rektor.

Im Rahmen der nationalsozialistischen Mobilmachung werden die Professoren Walter Brecht und Georg Jayme zu Leitern von Vierjahresplan-Instituten auf den Gebieten der Papierfabrikation und der Textilchemie. Mindestens sechs weitere Professoren erhalten Einzelforschungsaufträge im Rahmen des Vierjahresplans.

1939

Aufbau der Arbeitsgemeinschaft „Vorhaben Peenemünde“. Eingliederung der Technischen Hochschulen in die Organisation der Raketenentwicklung (V2) durch das Heereswaffenamt. Die TH Darmstadt wird größter Partner mit 92 Mitarbeitern (v. a. Triebwerksforschung, Entwicklung funk- und steuerungstechnischer Geräte, Berechnung von Raketenflugbahnen). Besonders stark eingebunden sind das Institut für Anorganische und Physikalische Chemie (Leitung Carl Wilhelm Wagner) sowie das Institut für Praktische Mathematik (IPM, Leitung Alwin Walther). Aber auch Professoren aus Mechanik, Technischer Physik, Hochspannungs- und Messtechnik sowie Elektrotechnik arbeiten mit.

1943

Bis zum Sommersemester sinkt die Studierendenzahl auf 410.

Ein drittes Vierjahresplaninstitut für Technische Physik der Kunststoffe unter der Leitung von Professor Richard Vieweg wird eingerichtet.

1944

Auf Befehl Heinrich Himmlers richtet die „Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe“ Forschungsstätten in Konzentrationslagern ein. In Zusammenarbeit mit dem IPM unter Alwin Walther sollen jüdische Wissenschaftler in der Forschungsstätte M (Mathematik) im KZ Sachsenhausen mathematische Formeln ausrechnen. Ob die angedachte Zusammenarbeit von Walther und der SS realisiert wurde, ist nach derzeitigem Kenntnisstand nicht belegbar. Wahrscheinlich ist, dass die Zusammenarbeit nicht zustande kam, weil das IPM zerstört wurde, bevor das Projekt in die Tat umgesetzt wurde.

Kurt Klöppel, Professor für Statik, Stahlbrücken- und Stahlhochbau, folgt Lieser als Rektor.

Bei Luftangriffen auf Darmstadt wird die TH zu 75 Prozent zerstört. Das Wintersemester 1944/45 findet nach Auslagerung einiger Institute weiter statt.

Gauleiter Jakob Sprenger bei der Grundsteinlegung des Instituts für Papierchemie, 1938.
Gauleiter Jakob Sprenger bei der Grundsteinlegung des Instituts für Papierchemie, 1938.

1945

Ende März erreichen die Amerikaner Darmstadt. Die Hochschule wird teilweise besetzt, der Lehrbetrieb zunächst nicht gestattet. 10 Professoren, die an den Forschungen zur V2 beteiligt waren, werden verhaftet und in England bzw. Augsburg verhört.

Der amerikanische Universitätsoffizier Hartshorne schenkt der TH Darmstadt keine besonders große Aufmerksamkeit, per „working agreement“ übergibt er die Betreuung der Hochschulgeschicke in die Hände der örtlichen Militärregierung. Die TH besitzt damit einen gewissen Sonderstatus, der ihr Handlungsmöglichkeiten eröffnet.

Ende April übernimmt ein Vertrauensausschuss die Universitätsleitung. Unter dessen Regie beginnt eine erste Entnazifizierung des Lehrkörpers. Der ehemalige Rektor Lieser wird im Herbst als belasteter Dozent von der Hochschule entfernt. Nach der Verfassung von 1926 wird Professor Erich Reuleaux zum neuen Rektor gewählt. Im Herbst finden Vorkurse für Studenten einiger Studiengänge statt.

1946

Am 17. Januar wird die TH Darmstadt mit 50 Professoren, 131 Lehrbeauftragten und etwa 1100 Studenten wieder eröffnet. Im Zuge der Entnazifizierung sind etwa 60 Prozent des Lehrkörpers vom Gesetz betroffen. Angesichts der gehäuft auftretenden Vakanzen greift die Hochschulleitung im Sinne eines Krisenmanagements aktiv in die Entnazifizierung der Hochschullehrer ein. Auf unterschiedliche Weise gelingt es ihr, den Ausgang der Verfahren zu beeinflussen. Etwa 15 Professoren werden als „Mitläufer“ eingestuft, darüber hinaus enden in der Regel die eingeleiteten Verfahren mit einer Einstufung des Betroffenen als „entlastet“.

Studenten lernen in ihrer provisorischen Unterkunft im Richthofenbunker, 1948.
Studenten lernen in ihrer provisorischen Unterkunft im Richthofenbunker, 1948.

Es kommt zu Spannungen mit der Militärregierung, da sich Rektor Reuleaux einer strikten Durchführung der Bestimmungen widersetzt. Daraufhin folgt im Juli 1946 sein Rücktritt. Nachfolger wird Professor Richard Vieweg.

Etliche Mitglieder der Technischen Hochschule, die in Peenemünde tätig gewesen waren, siedeln in die USA über, um an der US-amerikanischen Raketenentwicklung mitzuarbeiten („Operation Paperclip“). Auch in Darmstadt selbst kommt es zu unfreiwilliger wie freiwilliger Zusammenarbeit. Mehrere alliierte Geheimdienste statten der TH Besuche ab. Das Interesse der Alliierten verschafft den Professoren größere Handlungsspielräume.

1947

Vom 31. Juli bis 9. August findet der „Internationale Kongress für Ingenieursausbildung“ statt, der die politische Verantwortung der Ingenieure vor internationalem Publikum problematisiert. Trotz feierlicher Beschwörungen scheitert die Umsetzung der abstrakten Reformvorstellungen des Kongresses an den Fachegoismen. Die Darmstädter Professoren nutzen die Gelegenheit zur Wiederherstellung der Kontakte zur scientific community.

1948

Mit der Währungsreform beginnt die Planung des Wiederaufbaus von Gebäuden und Instituten. Es gelingt der Hochschule, Ressourcen, die sie aufgrund des Krieges und der Rüstungsforschung leihweise zur Verfügung gestellt bekommen hatte, auch für die Nachkriegszeit zu erhalten und ins Hochschuleigentum einzugliedern. Sowohl Personal- und Sachmittel als auch eigens für die Vierjahresplaninstitute errichtete Gebäude werden geräuschlos ins Eigentum der Hochschule übernommen.

1951

Durch Artikel 131 des Grundgesetzes kommt die Entnazifizierung von Beamten zu einem Abschluss. Bis auf den ehemaligen Rektor Lieser und Professor Friedrich List werden die vom Gesetz betroffenen Lehrenden wieder in den Dienst der Hochschule genommen oder zumindest offiziell emeritiert.

Von den während des Nationalsozialismus vertriebenen Hochschulangehörigen kehren dagegen mit dem Bauingenieur Adolf Kleinlogel und Musikwissenschaftler Friedrich Noack lediglich zwei außerplanmäßige Professoren wieder in ihre ehemaligen Ämter zurück, denn die einzige von der TH unterstützte Rückberufung – es handelt sich um den nach Großbritannien geflohenen Extraordinarius Hans Baerwald – scheitert am Tod Baerwalds noch im Exil.

1953

Mit Kurt Klöppel wird der letzte NS-Rektor erneut gewählt. Die Wiederwahl spiegelt das Selbstverständnis der TH wider. Klöppel war im Jahr 1945 von den Amerikanern nicht als Hochschulleiter akzeptiert worden.

2009

Das Präsidium der TU Darmstadt beschließt, mit einem eigenen Forschungsprojekt die Geschichte der TH zwischen 1930 und 1960 zu untersuchen.

2010

Die TU Darmstadt gedenkt mit der Verlegung von Erinnerungssteinen feierlich sechs ehemaliger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zwischen 1933 und 1935 aus der TH entlassen und verdrängt, durch die Hochschulleitung entrechtet und entwürdigt und zur Flucht aus Deutschland gezwungen wurden: der Biologe Walter Schwarz (später Michael Evenarí) und die Physiker Hans Baerwald, Stephan Gradstein, Gerhard Herzberg, Luise Herzberg und Kurt Lion. Die Form des Erinnerns an sämtliche Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft ist noch in der Diskussion.

Erinnerungssteine werden auf dem Campus verlegt, 2010.
Erinnerungssteine werden auf dem Campus verlegt, 2010.

2015

Das vom Präsiidum beauftragte Forschungsprojekt zur Geschichte der TH Darmstadt zwischen 1930 und 1960 wird mit der Veröffentlichung von zwei umfangreichen Dissertationen und einem Symposium abgeschlossen. Die Universitätsleitung rehabilitiert förmlich und namentlich Personen, denen in der NS-Zeit Unrecht zugefügt wurde – durch Entzug des Doktorgrades oder akademischer Ehrentitel oder durch Exmatrikulation.

Dissertation zum Thema aus dem Jahr 2014.
Dissertation zum Thema aus dem Jahr 2014.